BRAK-Mitteilungen 5/2022

dürftigkeit abzustellen (bb). Im Übrigen hat eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Vernehmung zur Folge (cc). Nach den konkreten Umständen konnte das OLG seinem Urteil die Angaben des Zeugen zugrunde legen (dd). [8] aa) Nach § 141 I 1 StPO in der seit dem 13.12.2019 aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung v. 10.12.2019 (BGBl. I S. 2128, 2129) geltenden Fassung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Ihm wird gem. § 141 II 1 Nr. 3 StPO unabhängig von einem Antrag in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insb. bei einer eigenen Vernehmung, nicht selbst verteidigen kann. Fehlt diese Voraussetzung, kommt nach der gesetzlichen Regelung eine Bestellung ohne Antrag von Amts wegen nicht in Betracht, sofern sie nicht nach sonstigen Vorschriften erforderlich ist. Entgegen anderer Ansichten (vgl. etwa LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 141 Rn. 30 ff.; SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl., § 141 Rn. 62; BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed., § 141 Rn. 5 f., 18; Spitzer, StV 2020, 418, 422) gebieten weder systematische noch richtlinienbezogene oder verfassungsrechtliche Erwägungen eine abweichende Auslegung. [9] (1) Aus der Regelungssystematik der §§ 140, 141 Antrag erforderlich StPO n.F. ergibt sich, dass im Falle einer notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger nicht ohne Weiteres sofort bestellt wird, sondern die Bestellung gem. § 141 I StPO grundsätzlich einen Antrag erfordert, sofern nicht die Voraussetzungen des § 141 II 2 StPO gegeben sind. Diese klare Regelungsstruktur spiegelt das im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geäußerte Ziel wider, „dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers, von den in Abs. 2 geregelten Ausnahmen abgesehen, nur dann zu erfolgen hat, wenn der Beschuldigte seinen Anspruch auf Zugang zu seinem Pflichtverteidiger ausdrücklich geltend macht“ (BT-Drs. 19/15151, 6). [10] (2) Die Richtlinie (EU) 2016/1919 des EuropäiEU-Richtlinie schen Parlaments und des Rates v. 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. EU 2016 Nr. L 197 S. 1; PKH-Richtlinie) verlangt eine Bestellung ohne Antrag ebenfalls nicht. [11] Zwar haben die Mitgliedstaaten nach Art. 4 V PKH-Richtlinie sicherzustellen, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde sowie vor bestimmten weiteren Maßnahmen bewilligt wird. Hieraus ergibt sich aber nicht, ob diese Bewilligung von Amts wegen oder auf Antrag zu geschehen hat. Dazu verhält sich die Begriffsbestimmung in Art. 3 PKH-Richtlinie ebenfalls nicht, nach der „Prozesskostenhilfe“ die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann. Eine anderweitige bindende Vorgabe lässt sich schließlich nicht aus Erwägungsgrund 18 der PKH-Richtlinie entnehmen. Danach „sollten“ die Mitgliedstaaten praktische Regelungen für die Bereitstellung von Prozesskostenhilfe einführen, in denen festgelegt werden könnte, dass Prozesskostenhilfe auf Antrag bewilligt wird; „insbesondere angesichts der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen sollte ein Antrag jedoch keine materiellrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein“. [12] Insoweit ist zum einen zu berücksichtigen, dass keine bindende Normwirkung durch Erwägungsgrund dem Erwägungsgrund bereits nach Wortlaut und Systematik keine bindende Normwirkung zukommt. Zum anderen lässt der Erwägungsgrund – jedenfalls in seiner deutschen Fassung („materiellrechtliche Voraussetzung“; im Französischen „une condition de fond“; im Englischen „a substantive condition“) – offen, ob ein Antrag eine verfahrensrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung darstellen kann. Die Möglichkeit, einen Antrag auf Prozesskostenhilfe vorzusehen, ergibt sich im Übrigen aus Art. 6 II PKHRichtlinie. Ferner hat der deutsche Gesetzgeber den Bedürfnissen schutzbedürftiger Personen insofern Rechnung getragen, als in den Fällen des § 141 II 1 StPO ein Pflichtverteidiger grundsätzlich unabhängig von einem Antrag bestellt wird (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 38). [13] Hinzu kommt, dass nach Erwägungsgrund 9 PKHRichtlinie diese nicht zur Anwendung kommen soll, wenn eine beschuldigte Person auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichtet hat. Wenngleich ein Verzicht und das Absehen von einer Antragstellung zu unterscheiden sind, ist dem Erwägungsgrund zu entnehmen, dass die PKH-Richtlinie nicht von einer von Amts wegen ausnahmslos zu gewährenden „Prozesskostenhilfe“ ausgeht. [14] (3) Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass die faires Verfahren in Rede stehende Gesetzesfassung dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung genügt (vgl. bereits BGH, Beschl. v. 5.2.2002 – 5 StR 588/01, BGHSt 47, 233, 237). Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar (s. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1977 – 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 210; v. 8.10.1985 – 2 BvR 1150/80 u.a., BVerfGE 70, 297, 323; v. 5.10.2020 – 2 BvR 554/20, StV 2021, 213 Rn. 44). Der Beschuldigte darf nicht nur SONSTIGES BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 289

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