BRAK-Mitteilungen 5/2022

Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1977 – 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 210). Diese Gelegenheit erhält er, da er nach entsprechender Belehrung die Bestellung eines Verteidigers beantragen kann. [15] bb) Es richtet sich maßgeblich nach der individuellen Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten, ob er sich selbst nicht verteidigen kann und ihm daher auch ohne Antrag ein Verteidiger sofort zu bestellen ist. [16] Der Wortlaut des § 141 II 1 Nr. 3 StPO greift insoweit auf die in § 140 II StPO gewählte, seit dem Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12.9.1950 (BGBl. I S. 455, 485; BT-Drs. I/530, Anlage II S. 16) unveränderte Formulierung zurück. Bereits dies legt eine einheitliche Auslegung nahe. Eine solche wurde im Gesetzgebungsverfahren nach einer zunächst anderen Entwurfsfassung ausdrücklich angestrebt (vgl. BT-Drs. 19/15151, 6). In Bezug auf § 140 II StPO hat der Gesetzgeber angenommen, dass sich Beschuldigte aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit, insb. infolge ihres geistigen Zustandes, nicht selbst verteidigen können (s. BT-Drs. 19/13829, 27). [17] Der systematische Zusammenhang spricht ebenfalls dafür, bei der fehlenden Verteidigungsmöglichkeit besonders die persönlichen Fähigkeiten des Beschuldigten in den Blick zu nehmen (vgl. im Ergebnis ebenso LR/ Jahn, StPO, 27. Aufl., § 140 Rn. 100; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 140 Rn. 24; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 140 Rn. 46; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140 Rn. 30 ff.; s. auch OLG Hamm, Beschl. v. 14.8.2003 – 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286, 3287; OLG Nürnberg, Beschl. v. 3.3.2014 – 2 Ws 63/14, juris Rn. 29; KG, Beschl. v. 23.2.2016 – 3 Ws 87/16, juris Rn. 8 mwN). So stellt die weitere Generalklausel des § 140 II StPO auf die Schwere der Tat, die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge und die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, mithin auf verfahrensbezogene Gesichtspunkte ab. Ein Bedarf für eine in dieselbe Richtung weisende zusätzliche Regelung liegt folglich nicht nahe. [18] Danach ist bei Prüfung der individuellen VerteidiGesamtwürdigung erforderlich gungsfähigkeit des Beschuldigten eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Hierbei kann zwar zu berücksichtigen sein, ob er die deutsche Sprache beherrscht. Allerdings begründen fehlende Sprachkenntnisse für sich genommen nicht die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung, weil ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter gem. § 187 I 2 GVG für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann (vgl. BGH, Beschl. v. 26.10.2000 – 3 StR 6/00, BGHSt 46, 178 – noch zur früheren Rechtslage; OLG Nürnberg, Beschl. v. 3.3.2014 – 2 Ws 63/14, juris Rn. 30 ff.; s. auch zur Ausländereigenschaft KG, Beschl. v. 10.5.2012 – 2 Ws 194/12 u.a., juris Rn. 15). Ebenso wenig ergibt sich aus der Bedeutung einer Beschuldigtenvernehmung für das weitere Verfahren im Allgemeinen die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung (vgl. zur früheren Rechtslage BGH, Beschl. v. 20.10.2014 – 5 StR 176/14, BGHSt 60, 38 Rn. 9 m.w.N.; a.A. etwa LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 141 Rn. 31). [19] Aus dem Gesetzeswortlaut und der Systematik des § 141 II 1 Nr. 3 StPO folgt, dass die Beschuldigtenvernehmung als solche nicht bereits Anlass für eine vorherige Bestellung eines Pflichtverteidigers ist, sondern nur, wenn der Beschuldigte sich ersichtlich nicht selbst verteidigen kann. Hierbei handelt es sich sowohl nach dem Zusammenhang als auch nach der dem Gesetz zugrundeliegenden Intention um einen Ausnahmefall (s. BTDrs. 19/15151, 6; 19/13829, 38). Gerade weil die Regelung ausschließlich auf die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung entsprechend § 140 II StPO a.E. abstellt, führen die weiteren in der Generalklausel des § 140 II StPO genannten Fälle einer notwendigen Verteidigung nicht dazu, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann und ein Verteidiger auch ohne Antrag zu bestellen ist. Die sonstigen Umstände können lediglich dann Bedeutung erlangen und bei einer Gesamtwürdigung zu berücksichtigen sein, wenn sich Einschränkungen von Beschuldigten in ihrer Verteidigungsfähigkeit aus der Persönlichkeit oder den persönlichen Fähigkeiten ergeben. [20] cc) Selbst in dem Fall, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor einer Beschuldigtenvernehmung zu Unrecht unterblieben ist, ergibt sich daraus nicht generell deren Unverwertbarkeit. [21] (1) Prinzipiell kennt das Strafverfahrensrecht keikeine generelle Unverwertbarkeit nen allgemein geltenden Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insb. nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des SONSTIGES BRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG 290

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