BRAK-Mitteilungen 5/2023

1 Alt. 2 EuRAG schreibe einen Widerruf zwingend vor, da der Kl. infolge des Brexits den Status eines europäischen Rechtsanwalts verloren habe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Selbst wenn man eine Abweichung von der vom Gesetz als gebundene Entscheidung vorgegebenen Rechtsfolge aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Ausnahmefällen zuließe, sei ein solcher Fall hier nicht gegeben. Weder sei der Widerruf für den Kl. schlechthin unerträglich, noch liege ein atypischer Fall vor. Dem Gesetzgeber sei bei Einfügung des § 4 II 1 Alt. 2 EuRAG bewusst gewesen, dass er den Betroffenen eine Position entziehe, auf der diese ihre berufliche Existenz aufgebaut haben. Eine wirtschaftliche Existenzvernichtung durch den Widerruf sei zudem nicht erkennbar. Da der Kl. auch Mandate aus anderen Rechtsordnungen bearbeite, sei es denkbar, dass diese die Ausfälle von Mandaten zum deutschen Recht ausgleichen könnten. Ferner knüpfe das EuRAG nur formal an die Eigenschaft als europäischer Rechtsanwalt an, sodass die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Kl. ohne Belang seien. Auch verletze der Widerruf den Kl. nicht in seinem Grundrecht aus Art. 12 I GG. Die Bekl. habe von der materiellen Verfassungsmäßigkeit des § 4 II 1 Alt. 2 EuRAG auszugehen, da ihr weder eine Prüfungskompetenz hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen noch eine entsprechende Verwerfungskompetenz zukomme. Ob zugleich Art. 15 GRCh verletzt sei, könne dahinstehen, da dessen Schutzbereich jedenfalls nicht über den des Art. 12 I GG hinausgehe. Unter Ergänzung der Angaben aus der Stellungnahme v. 11.3.2021 erhob der Kl. mit Schreiben v. 5.7.2021, eingegangen am selben Tag, Widerspruch gegen den Widerrufsbescheid v. 31.5.2021. Die Bekl. wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid v. 4.11.2021, zugestellt am 12.11.2021, zurück. Die Begründung entspricht im Wesentlichen der Begründung des Widerrufsbescheids. Daraufhin hat der Kl. mit Schriftsatz v. 9.12.2021, eingegangen am selben Tag, Anfechtungsklage gegen den Widerruf in Gestalt des Widerspruchsbescheids erhoben. Ergänzend zu seinen Rechtsausführungen im Vorverfahren hat er vorgetragen, aus der Gesetzesbegründung zu § 4 II 1 Alt. 2 EuRAG (RegE v. 24.4.2020, BR-Drs. 196/20, 73) ergebe sich, dass ein Widerruf nach Ablauf der Übergangszeit des Brexits nur „grundsätzlich“ angezeigt sei, in Ausnahmefällen – wie dem vorliegenden – aber hiervon abgewichen werden könne. Die Bekl. habe keine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt, zu der sie jedoch auch bei einer gebundenen Entscheidung verpflichtet gewesen sei, was auch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung folge. Der Widerruf sei aufgrund einer existenzvernichtenden Wirkung unangemessen, da über 99 Prozent des Umsatzes des Kl. aus Mandaten stamme, die nicht allein die Beratung im englischen Recht zum Gegenstand haben. Der Entzug der Kammermitgliedschaft komme daher einem Berufsverbot gleich. Diese erheblichen Einschränkungen seien nicht durch einen Gemeinwohlbelang gerechtfertigt. Es bestehe keine Gefahr für die Rechtspflege bzw. für das rechtsuchende Publikum, da der Kl. innerhalb seiner langjährigen Tätigkeit weder Haftungsfälle verursacht noch berufsrechtliche Verfehlungen begangen habe. Der vorliegende Fall sei ferner atypisch, da der Kl. deutscher Staatsangehöriger und nicht im Vereinigten Königreich tätig sei. Die Möglichkeit einer Aufnahme des Kl. als „WHO-Rechtsanwalt“ nach §§ 206 ff. BRAO führe indes zu keiner Abmilderung der Folgen des Widerrufs, da er hierdurch nicht mehr im deutschen und europäischen Recht beraten dürfte. Für den Kl. sei weiterhin nicht rechtzeitig absehbar gewesen, dass ein Widerruf seiner Kammeraufnahme erfolgen könne. Ein etwaiger Antrag auf Eingliederung in die deutsche Rechtsanwaltschaft gem. §§ 11 ff. EuRAG, der bis zum Ablauf der Übergangsfrist nach dem Brexit, also bis zum 31.12.2020, hätte gestellt werden können, und bei dessen Stattgabe dem Kl. weiterhin eine Beratung im deutschen und europäischen Recht möglich gewesen wäre, sei ihm daher nicht möglich gewesen. Die Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, die auch die zukünftige Dienstleistungsfreiheit betrafen, hätten bis Ende 2020 angedauert. Diese seien schließlich gescheitert. Die Gesetzesänderung zur Einfügung des § 4 II 1 Alt. 2 EuRAG sei sodann am 22.12.2020 verabschiedet worden und am 1.1.2021 in Kraft getreten. Der Kl. habe daher die Auswirkungen des Brexits nicht rechtzeitig absehen können. Der Kl. beantragt, 1. den Widerrufsbescheid der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer v. 31.5.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer v. 4.11.2021 aufzuheben, 2. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten des Kl. im Vorverfahren für notwendig zu erklären. Die Bekl. beantragt, die Klage abzuweisen. Ergänzend zu ihren Rechtsausführungen im Vorverfahren trägt sie insb. vor, dass die vom Kl. herangezogene Gesetzesbegründung keine andere Bewertung rechtfertige, da der Wortlaut des § 4 II 1 Alt. 2 EuRAG eindeutig eine gebundene Entscheidung vorsehe. Ferner könne die Aufnahme des Wortes „grundsätzlich“ in die Gesetzesbegründung auch damit erklärt werden, dass dort nicht nur auf § 4 II 1 Alt. 2 EuRAG verwiesen werde, sondern generell auf die durch Richtlinie 98/5/EG gewährten Privilegien. Auf die Staatsangehörigkeit des Kl. könne es zudem nicht ankommen, da auch für britische Staatsbürger eine vergleichbare Härte eintrete. Ferner sei nicht erkennbar, warum der Kl. keine Eingliederung nach §§ 11 ff. EuRAG beantragt habe, um eine dauerhaft gesicherte Rechtsposition zu erlangen. In der mündlichen Verhandlung v. 16.1.2023 hat der Kl. im Rahmen seiner Anhörung insb. erklärt, dass in der aktuellen Kanzleikonstellation eine andere Verteilung ZULASSUNG BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 5/2023 323

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