BRAK-Mitteilungen 4/2022

BRAK MIT TEILUNGEN AUGUST 2022 · AUSGABE 4/2022 53. JAHRGANG AKZENTE ALLES IST IM FLUSS Dr. Ulrich Wessels Ob Heraklit das deutsche Justizsystem kannte? Nun... als Vorsokratiker eher nicht. Doch seine Erkenntnis, dass sich alles in einem konstanten Wandel befindet, trifft auch auf die Justiz und die Anwaltschaft heutzutage zu. In beiden sind grundlegende Veränderungen im Gange. Vor gar nicht so langer Zeit war die Anwaltschaft geprägt durch Einzelkanzleien und kleine Sozietäten. Unter einem Anwalt stellten die Menschen sich jemand mit wuchtigem Schreibtisch und großer Bücherwand vor, der in Robe vor Gericht plädiert. Dieses Berufsbild hat sich stark verändert, hin zu einem breiten Spektrum anwaltlicher Tätigkeit: von der Einzel- bis zur Großkanzlei; von der Partnerin einer Sozietät bis zum Angestellten; von forensischer Tätigkeit zu primär beratenden Aufgaben. Und Syndikusanwältinnen und -anwälte spielen eine immer größere Rolle. Gut 21.000 der insgesamt rund 167.000 zur Anwaltschaft Zugelassenen sind in Unternehmen tätig. Dieses Bild einer vielfältigen und ganzheitlichen Versorgung durch Anwältinnen und Anwälte wird getrübt durch bedenkliche strukturelle Entwicklungen. Die Anwaltschaft wird älter, vor allem Kolleginnen geben ihre Zulassungen vorzeitig zurück, Selbstständigkeit wird gegenüber einer Anstellung weniger attraktiv, die Suche nach Nachwuchs oder Kanzleinachfolge wird schwierig. Schon in fünf bis zehn Jahren droht in den ostdeutschen Bundesländern eine Bedarfslücke von bis zu 50 %. So drastisch stellt sich die Situation im Rest der Republik zwar nicht dar; das anwaltliche Versorgungsniveau ist dort hoch, doch zumindest in den Flächenländern gibt es ähnliche Tendenzen. Sabine Fuhrmann dokumentiert in diesem Heft die Erkenntnisse der vom BRAK-Präsidium eingesetzten Arbeitsgruppe. Bei deren Analyse wird die Arbeitsgruppe freilich nicht stehenbleiben, sondern versuchen, Konzepte zu entwickeln, die diese Entwicklung aufhalten. In Bewegung ist auch die Justiz. Seit Jahresbeginn sind mit der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für Anwältinnen und Anwälte die Vorteile der Digitalisierung greifbarer geworden – aber auch, an welchen Stellen es noch hakt beim Wechsel von Papier zu Dateien und Strukturdatensätzen. Die Anwaltschaft hat mit dem beA eine wichtige Pionierleistung für den elektronischen Rechtsverkehr erbracht. Doch das ist nur ein Aspekt der Digitalisierung. Wie eine digitale Justiz abgesehen von elektronischem Dokumentenaustausch aussehen kann, hat das Bundesjustizministerium bereits in öffentlichen Veranstaltungen und in Gesprächen mit der BRAK dargestellt. Man denkt über die Einführung eines Justizportals, Videokonferenzsysteme, Chatbots für Rechtsantragsstellen und Online-Verfahren nach, mit dem erklärten Ziel, zivilgerichtliche Verfahren vollständig zu digitalisieren. In einer Linie mit diesen Überlegungen steht auch das Grundlagenpapier zum Einsatz von künstlicher Intelligenz und algorithmischen Systemen in der Justiz, das die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte bei ihrer Jahrestagung Ende Mai in Rostock diskutierten. Dabei ging es um ethische und verfassungsrechtliche Grenzen, aber auch um mögliche Einsatzfelder zur Unterstützung in formalisierten und standardisierten Verfahren und die Anwendung von predictive analytics. Und auch um Entscheidungsroboter ging es – doch so weit ist es noch nicht. Die Transformation von der analogen in eine digitale Gerichtswelt ist nicht aufzuhalten. Die Anwaltschaft tut gut daran, sich in die Diskussionen einzubringen. Grundlegende Gedanken hat die BRAK in ihrem Positionspapier zum „Digitalen Rechtssystem“ im Herbst 2021 festgehalten. Zurzeit ist sie als Ansprech- und Austauschpartnerin in die Überlegungen des Ministeriums einbezogen, auch wenn sie nicht immer die gleiche Position vertritt. Richtschnur für die BRAK ist bei allen Überlegungen, dass der Zugang zum Recht nicht durch systemische Veränderungen der Verfahrensgrundsätze beschränkt und in die anwaltliche Vertretung vor Gericht nicht eingegriffen werden darf. Ihr Dr. Ulrich Wessels AKZENTE BRAK-MITTEILUNGEN 4/2022 183

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