BRAK-Mitteilungen 1/2022

[14] a) Ein Verschulden liegt vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (st.Rspr., vgl. BVerwG, Urt. v. 8.3. 1983 – 1 C 34.80 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 129 S. 22; Beschl. v. 28.6.2019 – 8 PKH 3.19, juris Rn. 13 und v. 26.1.2021 – 2 B 59.20 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 290 Rn. 3). [15] Unverschuldete technische Probleme, derentwegen eine Übermittlung ohne vHN trotz eigenhändiger anwaltlicher Versendung vorstellbar sein könnte, wurden nicht geltend gemacht und sind auch im Übrigen nicht erkennbar. Vielmehr beruhte die formunwirksame Versendung nach dem Wiedereinsetzungsvorbringen auf der unzutreffenden Annahme, einfach signierte anwaltliche Schriftsätze dürften und könnten formwirksam durch Kanzleibeschäftigte versendet werden. [16] Die entsprechende Versendung der Revisionsbegründung am 5.8.2021 war mit den anwaltlichen Sorgfaltspflichten nicht zu vereinbaren. Zu diesen gehört es, sich über die für das Verfahren erhebliche Rechtslage zu unterrichten. Ein anwaltlicher Rechtsirrtum ist regelmäßig nicht unverschuldet. Wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der Rechtsanwalt den sicheren Weg wählen. Dies gilt besonders bei fristgebundenen Schriftsätzen. Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann den Irrtum nur entschuldigen, wenn die volle von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet wurde, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen. Der Rechtsanwalt muss sich anhand einschlägiger Fachliteratur über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informieren. Dies gilt besonders bei einer kürzlich geänderten Gesetzeslage, die ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit verlangt. Nur wenn der Rechtsirrtum auch bei erforderlicher Sorgfalt nicht vermeidbar war, ist er ausnahmsweise als entschuldigt anzusehen (BGH, Beschl. v. 15.5.2019 – XII ZB 573/18, BGHZ 222, 105 Rn. 25). [17] b) Ein solcher Entschuldigungsgrund ist der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags nicht zu entnehmen. Die im Jahr 2020 in mehreren Fachzeitschriften veröffentlichte höchstrichterliche Rechtsprechung zum zuvor umstrittenen, jedoch mehrheitlich bejahten Erfordernis eigenhändiger Versendung einfach signierter Dokumente aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (BAG, Beschl. v. 5.6.2020 – 10 AZN 53/ 20, NJW 2020, 2351 Rn. 14 ff. m.w.N.) betraf eine inhaltsgleiche Parallelregelung zu § 55a III 1 VwGO. Dieser Beschluss musste zumindest Zweifel an der Zulässigkeit und Wirksamkeit der im Wiedereinsetzungsvorbringen dargelegten Praxis der Versendung nicht qualifiziert signierter Dokumente durch Kanzleimitarbeiter wecken. Weitere Entscheidungen – auch zu § 55a III VwGO – schlossen sich ihm an (BSG, Beschl. v. 18.11. 2020 – B 1 KR 1/20 B juris Rn. 11; OVG Hamburg, Beschl. v. 4.6.2021 – 3 Bs 130/21, juris LS 1 und Rn. 11). Dass die Übermittlung einfach signierter Schriftsätze nicht an andere Personen als den sie verantwortenden Anwalt und Postfachinhaber delegiert werden durfte, ergab sich bereits seit dem 1.1.2018 aus § 23 III 5 RAVPV. Unter diesen Umständen war ein Festhalten an der bisherigen Versendungspraxis, auch wenn sie noch nicht von Dritten beanstandet worden war, nicht mehr mit der gebotenen anwaltlichen Sorgfalt zu vereinbaren. Dies galt besonders bei fristgebundenen Rechtsmittelbegründungen und gerade, wenn die Frist – wie hier – ausgeschöpft werden sollte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.5.1991 – 8 C 60.90, juris Rn. 4). [18] c) Die Ursächlichkeit des Verschuldens für das Fristversäumnis ist nicht dadurch entfallen, dass das Gericht erst verspätet auf den formfehlerhaften elektronischen Eingang hingewiesen hätte. Allerdings gebietet die prozessuale Fürsorgepflicht, bei der Eingangsbearbeitung im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs des Gerichts auf offenkundige Übermittlungsmängel hinzuweisen, wenn dies dazu beitragen kann, ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (BSG, Beschl. v. 9.5.2018 – B 12 KR 26/18 B, juris LS 2 und Rn. 10 f.; BAG, Beschl. v. 5.6.2020 – 10 AZN 53/20, juris Rn. 38 f.; jeweils m.w.N.). Hier konnte ein solcher Hinweis jedoch nicht mehr rechtzeitig erteilt werden, weil die Revisionsbegründung als elektronisches Dokument am 5.8.2021 erst nach dem Ende der Geschäftszeit bei Gericht einging. So konnte der Hinweis im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erst am folgenden Tag – nach Fristablauf – gegeben werden. HINWEISE DER REDAKTION: Die einfache Signatur i.S.d. § 130a III 1 Alt. 2 ZPO meint die einfache Wiedergabe des Namens am Ende des Textes, beispielsweise bestehend aus einem maschinenschriftlichen Namenszug unter dem Schriftsatz oder einer eingescannten Unterschrift. Legal definiert ist die einfache Signatur in Art. 3 Nr. 10 elDAS-VO. ÜBERMITTLUNG EINES ELEKTRONISCHEN DOKUMENTS ÜBER DAS beA BRAO §§ 46 II, 5 Nr. 2, 46a; ZPO § 130a III 1; ArbGG § 46c III 1 1. Die Übermittlung eines elektronischen Dokuments durch einen gem. §§ 46 II, 5 Nr. 2, 46a BRAO zugelassenen Verbandsjuristen (Syndikusrechtsanwalt) über das für ihn eingerichtete besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) ist gem. § 46c III 1 Alt. 2 ArbGG (bzw. § 130a III 1 Alt. 2 ZPO) auch dann wirksam, wenn zur Prozessvertretung nur der Verband und nicht speziell dieser Verbandsjurist bevollmächtigt wurde. ELEKTRONISCHER RECHTSVERKEHR BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 1/2022 51

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