BRAK-Mitteilungen 5/2023

1. KONKRETE ANGELEGENHEIT I.S.V. § 2 I RDG Eine Rechtsdienstleistung scheitert jedenfalls nicht an dem Merkmal der konkreten Angelegenheit, wie dies nach Ansicht des BGH99 99 BGH, BRAK-Mitt. 2021, 396 = NJW 2021, 3125, 3128 Rn. 31 – Vertragsdokumentengenerator. bei dem Vertragsgenerator smartlaw der Fall war, da die Funktionsweise von ChatGPT wesentlich komplexer ist. Es handelt sich zwar bei dem Output von ChatGPT wie im Fall des Vertragsgenerators um das Ergebnis einer Software, die für eine beliebige Anzahl von Fällen programmiert wurde. Die Leistungsfähigkeit einer KI wie ChatGPT geht aber weit über die eines (simplen) Rechtstextgenerators hinaus. Es werden nicht nur anhand vorgegebener Fragen vordefinierte Textbausteine abgerufen. Vielmehr erstellt die KI durch Auswertung einer riesigen Menge an Daten einen konkret auf die Beantwortung einer – nicht vorgegebenen – individuellen rechtlichen Frage zugeschnittenen Text in natürlicher Sprache.100 100 S. nur die Bsp. bei Johannisbauer, MMR-Aktuell 2023, 455537; weitere Bsp. in dem Beitrag https://www.blick-punkt.com/rechtsrat-von-einer-kuenstlichen-intelli genz-jurist-fuehlt-chatgpt-auf-den-zahn (zuletzt abger. am 1.9.2023). Hinzu kommt, dass anders als im Fall „smartlaw“ Rück- und Ergänzungsfragen in Dialogform möglich sind, die das vom Nutzer gewünschte Ergebnis weiter konkretisieren. Das geht über eine schematische Zusammenstellung von Textbausteinen aufgrund von Standardfragen weit hinaus, so dass im Ergebnis eine konkrete Angelegenheit zu bejahen ist, weil der Nutzer auf eine ihn betreffende konkrete rechtliche Frage die von ihm gewünschte Antwort erhält.101 101 I.Erg. ebenso Lobinger, LTZ 2023, 187, 192; Hartung, RDi 2023, 209, 215; Nickl, MMR 2023, 328, 332. 2. TÄTIGKEIT I.S.V. § 2 I RDG Problematischer ist hingegen die Frage, ob eine „Tätigkeit“ gemäß der Definition in § 2 I RDG vorliegt. Auch diese Frage kann man mit guten Gründen bejahen.102 102 Wie hier Lobinger, LTZ 2023, 187 (192); a.A. Hartung, RDi 2023, 209 (215 f.). Tätig werden kann immer nur ein Mensch, keine Software. Eine KI-Anwendung wie ChatGPT trifft keine selbständigen Entscheidungen.103 103 Nida-Rümelin, Direktor des Bayerischen Forschungsinstituts für digitale Transformation (BIDT), https://twitter.com/BIDT_Muenchen/status/1628735290134208 516 (zuletzt abger. am 1.9.2023); allg. zu KI als Rechtsdienstleister Kaulartz/Braegelmann/Fries, AI und Machine Learning-Hdb., Kap. 15.1, Rechtsdienstleistung durch KI, 651 (656) Rn. 19 ff. Das Ergebnis ist immer einem Menschen zurechenbar, auch wenn bei KI teils von „autonomen“ Systemen gesprochen wird.104 104 Von „Autonomie“ wird bei KI-Systemen bereits dann gesprochen, wenn sie imstande ist, nicht vorhersagbare Entscheidungen aufgrund selbst „erlernter“ Algorithmen zu treffen, vgl. SWK Legal Tech/Bues/Grupp [Automatisierung und Autonomie] Rn. 56. Die Frage der Zurechenbarkeit von technischen Abläufen auf einen Verantwortlichen ist keine Besonderheit des RDG, sondern stellt sich auch in anderen Rechtsdisziplinen und wird bei KI regelmäßig bejaht.105 105 S. dazu im Überblick Busche, JA 2023, 441, 445. Für eine „Tätigkeit“ i.S.v. § 2 I RDG ist letztlich entscheidend, dass mit Hilfe des von einem Anbieter oder Dritten bereitgestellten ChatGPT Rechtstexte und andere Inhalte erzeugt werden. Eine Tätigkeit liegt somit wie im Fall eines üblichen Rechtstextgenerators vor.106 106 Zum Vertragsgenerator bereits Singer RDi 2022, 53, 55; zuvor bereits Remmertz, BRAK-Mitt. 2017, 55 (57 f.); ders., BRAK-Mitt. 2018, 231 (232); Krenzler, BRAKMitt. 2020, 119 (120); Timmermann/Hundertmark, RDi 2021, 269 Rn. 28; Wolf/ Künnen, BRAK-Mitt. 2019, 274 (275); Degen/Krahmer, GRUR-Prax 2016, 363 ff.; Fries, ZRP 2018, 161 (162). 3. ERFORDERLICHKEIT EINER RECHTLICHEN PRÜFUNG Die Frage der Erforderlichkeit einer rechtlichen Prüfung im Einzelfall ist ebenfalls zu bejahen. Dies hatte der BGH im Fall „smartlaw“ noch offengelassen.107 107 BGH, NJW 2021, 3125 (3129) Rn. 40. Da es bereits ausreicht, wenn eine rechtliche Prüfung objektiv, d.h. nach der Verkehrsanschauung erforderlich ist,108 108 S. dazu ausf. Remmertz, in Krenzler/Remmertz, § 2 RDG Rn. 30 ff. dürfte dieses Merkmal in vielen Fällen zu bejahen sein. Abhängig von der Aufgabenstellung (prompt) ist eine rechtliche Prüfung bei der Nutzung von ChatGPT bereits objektiv erforderlich.109 109 Ebenso Lobinger, LTZ 2023, 187 (192). Der Nutzer dürfte in vielen Fällen auch erwarten, dass sein konkreter Fall beantwortet und einer auf seine individuellen Verhältnisse zugeschnittenen rechtlichen Lösung zugeführt wird.110 110 Nickl, MMR 2023, 328 (332). Ob eine rechtliche Prüfung auch durchgeführt wird, ist unerheblich. Es reicht aus, wenn sie „nur“ erforderlich ist. Dies hat der BGH im Fall „smartlaw“ indirekt bestätigt, indem er die Bewerbung oder das Angebot einer unzulässigen Rechtsdienstleistung bereits als Verstoß angesehenhat.111 111 BGH, NJW 2021, 3125 (3126) Rn. 16. IV. AUSBLICK Im RDG stehen höchstrichterliche Entscheidungen zur Zulässigkeit von Inkasso-Geschäftsmodellen in komplexen Rechtsgebieten wie dem Kartellrecht und zu einzelnen Fallgestaltungen nach § 4 RDG noch aus. Mit Spannung darf auch erwartet werden, wie der EuGH die Vorlagefragen des LG Dortmund beantworten wird. Weiterhin offen sind auch Fragen zur neuen Systematik nach den §§ 2, 5 RDG, insbesondere, welche Nebenleistungen zum Inkasso nach § 5 RDG erlaubt sind. Insoweit bleibt abzuwarten, welche Grenzen die Rechtsprechung für das Legal Tech-Inkasso ziehen wird. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Aufsicht bei Rechtsdienstleistungen ist der Reformprozess noch nicht abgeschlossen, insbesondere das Kohärenzproblem noch ungelöst. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber hier noch für Abhilfe sorgen wird. KI-Anwendungen wie ChatGPT stellen das RDG vor neue Herausforderungen. Auch hier bleibt abzuwarten, wie diese nach der Rechtsprechung eingeordnet werden, sollten entsprechende Angebote auf den Markt gebracht werden. Möglicherweise könnten diese Entwicklungen auch zu weiteren Reformen und zu einer Anpassung des RDG an das digitale Zeitalter führen. BRAK-MITTEILUNGEN 5/2023 AUFSÄTZE 294

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