BRAK-Mitteilungen 2/2023

den, um die freie Ausübung des Rechtsanwaltsberufs ohne Diskriminierung und ohne unzulässige Einmischung seitens der Behörden oder der Öffentlichkeit zu achten, zu schützen und zu fördern.“ Es finden sich ferner Grundsätze zur juristischen Aus- und Fortbildung, zur Rolle und zu den Pflichten von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, zum Zugang von jedermann zu anwaltlicher Beratung und Vertretung, zu Berufsorganisationen sowie zu Disziplinarmaßnahmen. Die „Checkliste zur Rechtsstaatlichkeit“ der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (sog. Venedig-Kommission) aus dem Jahr 2016 enthält einen Abschnitt über die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Anwaltschaft. Darin wird festgestellt, dass der Anwaltschaft eine grundlegende Rolle im Justizsystem zukommt.2 2 The Rule of Law Checklist, Venice Commission of the Council of Europe, adopted by the Venice Commission at its 106th Plenary Session (Venice, 11-12 March 2016), S. 33-43 (zuletzt abger. am 13.1.2023). Auch Anwaltsvereinigungen haben sich aktiv für die Setzung von Standards eingebracht. So hat die International Bar Association verschiedene Richtlinien zum Anwaltsberuf herausgegeben.3 3 Zu finden unter https://www.ibanet.org/resources (zuletzt abger. am 13.1.2023). Die Union Internationale des Avocats hat im Jahr 2018 eine Resolution mit Grundprinzipien für die Anwaltschaft beschlossen.4 4 Core Principles of the Legal Profession, Resolution ratified on Tuesday October 30, 2018, during the General Assembly in Porto (zuletzt abger. am 13.1.2023). Der CCBE hat 2019 eine Charta der Grundprinzipien des europäischen Rechtsanwaltsberufs verabschiedet.5 5 Charter of core principles of the European legal profession & Code of conduct for European lawyers, approved by the Plenary Session on 17 May 2019 (zuletzt abger. am 13.1.2023). Die 1990 verabschiedeten unverbindlichen Grundprinzipien der Vereinten Nationen über die Rolle der Rechtsanwälte6 6 Basic Principles on the Role of Lawyers, adopted on 7 September 1990 by the Eighth United Nations Congress on the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, Havana, Cuba (zuletzt abger. am 13.1.2023). betonen die entscheidende Rolle, die Anwaltsvereinigungen „bei der Aufrechterhaltung der beruflichen Normen und der Berufsethik, beim Schutz ihrer Mitglieder vor Verfolgung und unzulässigen Beschränkungen und Verstößen, bei der Bereitstellung von Rechtsdienstleistungen für alle, die sie benötigen, und bei der Zusammenarbeit mit staatlichen und anderen Institutionen zur Förderung der Ziele der Justiz und des öffentlichen Interesses“ spielen. All diese Texte haben jedoch keine verbindliche Rechtskraft. Bestehende innerstaatliche Regelungen für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs sind von Staat zu Staat unterschiedlich. 2. DAS RECHT AUF EIN FAIRES VERFAHREN UND DIE RECHTSPRECHUNG DES EGMR Ein verbindlicher Rechtstext ist die EMRK, die in Art. 6 das Recht auf ein faires Verfahren schützt. Dieses Recht betrifft auch Fragen, die für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs von Bedeutung sind. So gehört dazu in Strafverfahren (Art. 6 III EMRK) z.B. das Recht auf angemessene Zeit und Möglichkeit zur Vorbereitung der Verteidigung, das Recht auf einen Rechtsbeistand eigener Wahl oder, falls die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Diese Bestimmungen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit seiner Rechtsprechung konkretisiert und mit Leben ausgefüllt. Zum Beispiel muss für die Wahrung von Art. 6 III lit. b EMRK der Angeklagte die Möglichkeit haben, seine Verteidigung in angemessener Weise zu organisieren, ohne dass er in seiner Möglichkeit eingeschränkt wird, alle relevanten Verteidigungsvorbringen vor dem Gericht geltend zu machen und so den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen.7 7 EGMR, Urt. v. 12.4.2012 – 39908/05 (Iglin/Ukraine), Rn. 65; Urt. v. 10.7.2012 – 58331/09 (Gregaˇcevi´c/Kroatien), Rn. 51; ebenso schon EKMR, Bericht v. 12.7. 1984 – 9300/81 (Can/Austria), Rn. 53. So hat der EGMR beispielsweise im Fall Gregaˇcevi´c gegen Kroatien dargelegt, dass in einem komplexen Wirtschaftsstrafverfahren die bloße Verlesung umfangreicher Korrespondenz im Verfahren, die für die Anklage relevant ist, eine Verletzung von Art. 6 III lit. b EMRK darstellte. Der Verteidiger hatte keine Möglichkeit, im Vorfeld oder im Wege einer Unterbrechung des Verfahrens Einsicht in diese Korrespondenz zu nehmen, so dass keine angemessene Zeit und Möglichkeit zur Vorbereitung der Verteidigung bestand.8 8 EGMR, Urt. v. 10.7.2012 – 58331/09 (Gregaˇcevi´c/Kroatien), Rn. 53 ff. Der EGMR hat zudem auch andere unmittelbar mit der anwaltlichen Berufsausübung zusammenhängende Rechte in Strafverfahren konkretisiert und ihnen Geltung verschafft, beispielsweise die Voraussetzungen für das in Art. 6 III lit. c EMRK enthaltene Recht auf unentgeltliche Bestellung einer Pflichtverteidigung.9 9 EGMR, Urt. v. 24.5.1991 – 12744/87 (Quaranta/Schweiz), Rn. 27; EGMR, Urt. v. 25.4.1983 – 8398/78 (Pakelli/Deutschland), Rn. 36 ff. Auch in Zivilverfahren sind einzelne Rechte abgesichert, obwohl Art. 6 EMRK keine detaillierten Bestimmungen für Zivilverfahren enthält. So hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung beispielsweise festgestellt, dass es unter bestimmten Umständen zur Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren notwendig sein kann, dass der Staat Prozesskostenhilfe gewährt10 10 Vgl. EGMR, Urt. v. 12.6.2003 – 45681/99 (Gutfreund/Frankreich), Rn. 38. oder dass bestimmte Grundsätze beachtet werden müssen, um die Waffengleichheit zwischen den Parteien zu gewährleisten.11 11 Vgl. z.B. für eine widersprüchliche und unzutreffende Ablehnung einer Zeugenvernehmung im Zivilverfahren EGMR, Urt. v. 15.6.2004 – 40847/98 (Tamminen/Finnland), Rn. 39 ff. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bestimmte im Zusammenhang mit der anwaltlichen Berufsausübung stehende Einzelthemen rechtsverbindlich in der EMRK geregelt sind und durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisiert wurden. Jedoch sind eine Vielzahl anderer Themen, die von grundlegender Bedeutung für den Beruf der Anwältin bzw. des Anwalts sind, nur in nicht bindenden Instrumenten zu finden. Zugleich kommen in vielen Mitgliedstaaten des Europarates Belästigungen, Drohungen und Angriffe gegen TRIERWEILER/BOOG, NEUES RECHTSINSTRUMENT FÜR DEN SCHUTZ DES ANWALTSBERUFS AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 2/2023 71

RkJQdWJsaXNoZXIy ODUyNDI0