BRAK-Mitteilungen 5/2022

BGH, Beschl. v. 8.2.2012 – 4 StR 657/11, BGHR StGB § 184b VI Einziehung 1 Rn. 6). Es liegt nach dem Gesamtzusammenhang nahe und ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Datei erst nach der Tat gespeichert wurde. Zwar ist hierfür die Tat insofern ursächlich, als ohne sie das Video nicht entstanden wäre. Dies reicht jedoch bei einer späteren Speicherung für einen unmittelbaren Zusammenhang nicht aus, zumal ansonsten jegliches Speichermedium, auf welches das Video auch Jahre nach der Tat geladen würde, als Tatprodukt zu bewerten wäre. [31] b) Die angeordnete Einziehung ist daher aufzuheben und entfällt. In einer neuen Hauptverhandlung sind weitergehende Feststellungen, die eine Einziehung tragen könnten, nicht zu erwarten. [32] 4. Angesichts des geringen Teilerfolgs der Revision ist es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 IV StPO). ANMERKUNG: Sämtlichen Leitsätzen des oben dargestellten Beschlusses des 3. Strafsenats stehen namhafte Stimmen in der Literatur kritisch gegenüber. Zu Recht, denn im Ergebnis fasst der BGH die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen zu eng (dazu I. und II.) und fällt damit hinter die Mindestanforderungen der PKH-Richtlinie zurück. Und seine Ablehnung eines Beweisverwertungsverbots kann rechtswidrige Beweiserhebungen in Zukunft begünstigen (dazu III.). I. In der seit dem 13.12.2019 aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung v. 10.12.2019 geltenden Fassung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, nach § 141 I 1 StPO unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Eine Pflicht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach § 141 II 1 Nr. 3 StPO unabhängig von einem Antrag besteht, sobald im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insb. bei einer eigenen Vernehmung, nicht selbst verteidigen kann. Der Senat beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Wortlaut sowie das systematische Erfordernis, die §§ 140 II und 141 II 1 Nr. 3 StPO gleichlautend auszulegen. Mit dieser Begründung lehnt er ab, auch in den übrigen Fällen der notwendigen Verteidigung, insb. den § 140 I Nr. 1 und 2 StPO, eine Unfähigkeit der Selbstverteidigung i.S.d. § 141 II 1 Nr. 3 StPO anzunehmen. Jahn (Löwe/Rosenberg/Jahn, StPO, § 141 Rn. 33 f.) hält in überzeugender Weise dagegen, dass die Unfähigkeit zur Selbstverteidigung i.R.v. § 141 II StPO im Lichte der sog. PKH-Richtlinie europarechtskonform extensiv auszulegen ist (ebenso BeckOK-StPO/Krawczyk, § 141 Rn. 5 ff.): „Das jetzige Modell, welches einen Antrag des Beschuldigten als Voraussetzung für die Gewährung von notwendiger Verteidigung in Abs. 1 vorsieht, widerspricht dem dokumentierten Sinn und Zweck der PKH-Richtlinie, wie er sich auch in Erwägungsgrund 18 widerspiegelt: Denn ,ein solcher Antrag (sollte) jedoch keine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (bzw. notwendiger Verteidigung) sein’. Dies gilt, worauf jener Erwägungsgrund 18 durch das Wort ,insbesondere’ verweist, gerade nicht nur bei generell schutzbedürftigen, besonders vulnerablen Personen“. Mit diesen Argumenten setzt sich der 3. Senat in Rn. 12 dann wenig nachvollziehbar auseinander. Zwar mag es so sein, dass der Wortlaut noch offenlässt, ob ein Antrag eine verfahrensrechtliche Voraussetzung darstellen dürfe (so auch Lichtenthaler, FDStrafR 2022, 449463). Entscheidend ist aber, dass es bei der richtlinienkonformen Auslegung nicht darauf ankommt, ob ein Erwägungsgrund bindende Normwirkung hat. Vielmehr sind die Begrifflichkeiten der StPO im Lichte von § 288 III AEUV am Sinn und Zweck der Richtlinie auszurichten (EuGH, Urt. v. 9.3.2004 – C-397/01 Rn. 110 – Pfeiffer). II. Der Senat legt den Begriff der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung in den §§ 140 II sowie 141 II Nr. 3 StPO sodann aus systematischen, grammatikalischen und historischen Gründen identisch aus. Es komme maßgeblich auf die individuelle Schutzbedürftigkeit an. Auch insoweit ist die Entscheidung Bedenken ausgesetzt (vgl. auch Ignor, StV 9/2022, Editorial, mit einer verfassungsrechtlichen Kritik). Die Pflichtverteidigerbestellung wird damit neben dem Vorliegen einer notwendigen Verteidigung i.S.d. § 140 StPO von einem weiteren Kriterium abhängig gemacht. Damit fällt die Regelung ersichtlich hinter die Mindestanforderungen der sog. PKH-Richtlinie zurück (vgl. hierzu ausführlich BeckOK-StPO/Krawczyk, § 141 Rn. 18 mit Verweis auf Zink, Autonomie und Strafverteidigung zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, 2019, 195 f.). Insbesondere der historischen Auslegung tritt wiederum Jahn sehr überzeugend entgegen. Es sollte nach der Begründung des Rechtsausschussberichts gerade nur ein Gleichlauf der notwendigen Verteidigung im Ermittlungs- und Hauptverfahren hergestellt werden (Löwe/Rosenberg/Jahn, StPO, § 141 Rn. 30 m.w.N.). Ein Selbstverteidigungsdefizit i.S.d. § 141 II Nr. 3 StPO liegt deshalb dann schon vor, wenn im Vorverfahren vor einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm absehbar ist, dass ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 I oder II StPO vorliegen wird (Jahn, a.a.O. Rn. 33; vermittelnd Schork, NJW 2022, 2129: maßgeblich sei eine Gesamtabwägung, insb. der Beweislage und der Schwere des Vorwurfs). Zur systematischen Auslegung erteilt Spitzer (StV 2022, 554, 559) wegen der unterschiedlichen Teleologie eine Absage: Nach der PKH-RL handele es sich um eine abstrakt und damit objektiv zu begreifende Schutzbedürftigkeit, nach dem Maßstab des § 140 II StPO hingegen um eine konkrete, tatsächlich vorhanBRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG 292

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