BRAK-Mitteilungen 5/2022

b) DAS VERBOT DER REKONSTRUKTION DER HAUPTVERHANDLUNG IM REVISIONSVERFAHREN ALS HINDERNIS? Sorge der Kritiker ist vor allem, dass die Aufzeichnung der Hauptverhandlung zu einer Rekonstruktion der Hauptverhandlung führt. Richtigerweise ist Zweck und Wesen der strafprozessualen Revision23 23 Zuletzt monografisch hierzu: Nikola, Das Wesen der strafprozessualen Revision, passim; s. ferner Knauer, NStZ 2016, 1 ff. vor allem die Kontrollfunktion gegenüber den Instanzgerichten.24 24 Knauer, NStZ 2016, 1, 9. Sie ist keine zweite Tatsacheninstanz und eine Wiederholung oder Ergänzung der tatgerichtlichen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht ist ausgeschlossen (sog. Rekonstruktionsverbot).25 25 Vgl. statt aller Kudlich, in Hoven/Kudlich, Digitalisierung und Strafverfahren, 2020, 163, 169 m.w.N. Die Ergebnisse der Beweisaufnahme festzustellen und zu würdigen, ist nach der Zuständigkeitsstruktur im Instanzenzug Sache des Tatrichters.26 26 MüKoStPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. 2019, StPO § 337 Rn. 75. Das Revisionsgericht prüft gerade nicht, ob Verfahrensbeteiligte und/oder Zeugen tatsächlich so ausgesagt haben, wie in den Urteilsgründen festgestellt oder ob die Beweisfeststellungen im Urteil mit den Aussagedarstellungen im Protokoll übereinstimmen.27 27 S. hierzuKudlich, in Hoven/Kudlich, Digitalisierung und Strafverfahren, 2020, 163, 169; Sabel, in Hoven/Kudlich, Digitalisierung und Strafverfahren, 2020, 151, 158 mit Verweis auf BGH, NJW 1966, 63. Die Hauptverhandlung wird nicht rekonstruiert. Demgegenüber gibt es Ausnahmen vom Rekonstruktionsverbot, und zwar insbesondere dort, wo nicht die Gefahr besteht, dass das Revisionsgericht tatrichterliche Funktionen ausübt,28 28 Vgl. überblicksweise MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, § 337 Rn. 77 ff. oder wo der Widerspruch zwischen Urteil und Beweismittel offenkundig ist, wenn etwa – ohne die tatrichterlichen Feststellungen durch eine eigene Beweiserhebung zu verdrängen – anhand von Unterlagen mit objektivem Beweiswert ein Beweisergebnis in Frage steht.29 29 Vgl. BGH 3.7.1991 – 2 StR 45/91, BGHSt 38, 14 = NJW 1992, 252; MüKoStPO/ Knauer/Kudlich, 1. Aufl. 2019, StPO § 337 Rn. 77 m.w.N. Zum Rekonstruktionsverbot wird am 11.11.2022 Richterin am BGH Dr. Louisa Bartel referieren.30 30 Niemand wäre aufgrund ihrer monographischen Befassung mit dem Thema (Bartel, Das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung, 2014) berufener. Die zivilprozessuale Perspektive steuert Prof. Dr. Volkert Vorwerk bei. c) AUDIO-VISUELLE AUFZEICHNUNG VS. TRANSKRIPTION Im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG) ist die reine Aufzeichnung der Hauptverhandlung, das mildere Mittel. Im Hinblick auf die Geeignetheit hat die audio-visuelle Aufzeichnung demgegenüber den klaren Vorteil der Authentizität, indem Mimik und Gestik erfasst und dem Tatrichter damit auch noch im Nachhinein die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage und die Glaubwürdigkeit des Aussagenden ermöglicht.31 31 Vgl. BRAK-Stn.-Nr. 61/2021, 4 m.w.N. Allerdings ist der beste Weg sicher Aufzeichnung und Transkription, zu der Prof. Dr. Ren´e KreuzBaath am 11.11.2022 referieren wird. In Anbetracht des Ziels wäre ein Eingriff durch den mit der Dokumentation verfolgten Zweck, der verbesserten Wahrheitsfindung, verfassungsrechtlich aber jedenfalls gerechtfertigt.32 32 S. Expertenkommission zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, 88 ff., https://www.bmj.de/SharedDocs/Artikel/DE/2021/0701_Dokumenta tion_Hauptverhandlung.html (zuletzt abgerufen am 22.8.2022); ebenso BRAK-Stn.- Nr. 61/2021, 7 f., auf den Einwand der Expertenkommission zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (dort 88 ff.) eingehend, https://www.bmj. de/SharedDocs/Artikel/DE/2021/0701_Dokumentation_Hauptverhandlung.html (zuletzt abgerufen am 22.8.2022); s. hierzu auch Wehowsky, StV 2018, 685 ff. Zur Frage, ob daneben die Gefahr besteht, die Verfahrensbeteiligten könnten sich im Falle einer audio-visuellen Aufzeichnung unnatürlich verhalten, liegen bislang zwar keine gesicherten empirischen Erkenntnisse vor.33 33 So auch BRAK-Stn.-Nr. 61/2021, 4; Sabel, in Hoven/Kudlich, Digitalisierung und Strafverfahren, 2020, 151, 156. Erste Eindrücke von Beschäftigten am Internationalen Strafgerichtshof zeigen vielmehr, dass die Aussagebereitschaft durch die dort gängige audio-visuelle Dokumentation nicht eingeschränkt wird.34 34 Vgl. Chaitidou, in Hoven/Kudlich, Digitalisierung und Strafverfahren, 2020, 179, 196 f.; a.A. Bartel, StV 2018, 678, 681. Über die Erfahrungen am Internationalen Strafgerichtshof wird Prof. Dr. Bertram Schmitt im Eröffnungsvortrag referieren. Als hervorragender Kenner beider Welten, also des bundesdeutschen Strafprozesses, bisher ohne digitale Komponente, und des internationalen Prozesses mit wohl optimaler Nutzung digitaler Mittel, gibt es keinen Berufeneren. 2. AKTENEINSICHT IM DIGITALEN ZEITALTER Schon seit Beginn dieses Jahres müssen gem. § 32d S. 2 StPO die Berufung und ihre Begründung, die Revision, ihre Begründung und die Gegenerklärung sowie die Privatklage und die Anschlusserklärung bei der Nebenklage als elektronisches Dokument per beA übermittelt werden. Darüber hinaus ist die flächendeckende Einführung der eAkte in der gesamten Strafjustiz bis zum 31.12.2025 optional und ab dem 1.1.2026 obligatorisch vorgeschrieben.35 35 Vgl. Mitterer, in Anders/Graalmann-Scheerer/Schady, Innovative Entwicklungen in den deutschen Staatsanwaltschaften, 2021, 353. Die eAkte findet ihre gesetzliche Grundlage in §§ 32 ff. StPO, die durch das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5.7.201736 36 BGBl. 2017 I, 2208. eingeführt worden sind. Anders als bei der Einführung einer vollkommen elektronisch geführten Verfahrensakte in Bezug auf Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten (§§ 110a-110e OWiG a.F.) sollte in Strafverfahren damals noch keine vollständig elektronische Akte eingeführt werden.37 37 Vgl. hierzu Graf, in KK-OWiG, 4. Aufl. 2014, § 110a Rn. 1 f. Die Einsicht in die elektronische Strafakte soll sich in erster Linie nach der Strafakteneinsichtsverordnung (StrafAktEinV) richten.38 38 Vgl. Verordnung über die Standards für die Einsicht in elektronische Akten im Strafverfahren (Strafakteneinsichtsverordnung – StrafAktEinV) v. 24.2.2020, BGBl. 2020 I, 242. Diese sieht Akteneinsicht in Form von Bereitstellung über das Akteneinsichtsportal KNAUER, DIGITALISIERUNG DES STRAFPROZESSES IM KONTEXT RECHTSSTAAT UND ZUGANG ZUM RECHT BRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 AUFSÄTZE 246

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