BRAK-Mitteilungen 5/2022

kraft liegen. Reflektierende Urteilskraft bedeutet vor allem eine im Dialog mit den Parteien gefundene Entscheidung.26 26 Hierzu Wolf, in FS 190 Jahre Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover, 2021, 205, 223 ff. Hierin liegt auch die zentrale Bedeutung der Tätigkeit der Rechtsanwälte für die Rechtsfindung.27 27 Wolf, in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl., 2020, § 1 Rn. 17 ff. Beurteilungsmaßstab für das Grundsatzpapier muss daher sein, in welchem Umfang es einer Verbesserung der dialogischen Rechtsfindung dient, oder ob das Papier nicht an der einen oder anderen Stelle auf der Überbetonung des Justizsyllogismus beruht. Im Sinne des Justizsyllogismus stellt sich die Rechtsanwendung als eine rein logische Operation im Modus Barbara dar.28 28 Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; Sokrates ist sterblich, hierzu Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, 71. Spätestens aber komplexere Fragestellungen sind nicht einfach nur unter das Gesetz subsumierbar. Vielmehr bedarf es einer Wertung, welche in letzter Konsequenz die entscheidende Richterin oder der entscheidende Richter zu verantworten und in einem dialogischen Verfahren mit den Parteien zu finden hat.29 29 Vgl. Wolf/Künnen, in FS für Vorwerk, 365, 366. III. DEM ZAUBER DER KI ERLEGEN? Technologischer Fortschritt wird in der Regel immer mit PR-Begriffen, zu dem auch das Wort Künstliche Intelligenz zählt, eingeführt und weckt zunächst unrealistische Erwartungen.30 30 Pfeffer, Menschliches Denken und Künstliche Intelligenz, 2021, 39. Nach der Beratungsfirma Gartner benannt spricht man auch von der Gartner-Kurve. Neue Technologien werden am Anfang mit großen, sich als nicht zutreffend erweisenden Erwartungen begleitet, um sich nach einer Phase der Enttäuschung auf einem realistischen Niveau der Erwartungen einzupendeln. Sind die OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten in ihrem Grundsatzpapier nun dem Zauber der KI erlegen? Dem Grundsatzpapier ist in seinem Grundlagenteil zuzustimmen, nicht so eindeutig zuzustimmen ist den einzelnen zur Diskussion gestellten Beispielen. Einen besonderen Schwerpunkt bilden die Projekte, welche eine Strukturierung der Akte ermöglichen. Man knüpft dabei gedanklich wohl an die Forderung des strukturierten Parteivortrags an,31 31 Modernisierung des Zivilprozesses – Diskussionspapier der Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses, 2021; hierzu Wolf, in FS 190 Jahre Rechtsanwaltsund Notarverein Hannover, 2021, 205 ff. man gibt in dem Grundsatzpapier jedoch nicht mehr den Parteivertretern auf, strukturiert vorzutragen, sondern will mit Hilfe von KI-Systemen die Akte strukturieren. 1. STRUKTURIERUNGSMODELLE Die Strukturierungsmodelle beziehen sich dabei auf ganz unterschiedliche Aspekte der richterlichen Fallbearbeitung in der Akte. So wird in Nordrhein-Westfalen zusammen mit der SINC GmbH an unterschiedlichen Analysefunktionen für die Prozessakte gearbeitet. Diese reichen von einer Zeitstrahlanalyse bis zum Textvergleich, welcher den Grad der Übereinstimmung mit anderen Dokumenten herausarbeitet. Bei der Zeitstrahlanalyse werden alle Dokumente, die mit einem Datum versehen sind, erfasst und chronologisch geordnet. Über einen Dokumentenbaum soll das jeweilige Dokument so leichter aufgefunden werden können. Experimentiert wird auch mit einer Normverweisungsanalyse. Die Schriftsätze werden nach Gesetzesnormen durchsucht und automatisch ein Hyperlink zu dem entsprechenden Dokument hergestellt. Eine Softwareanwendung, die auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden sollte. Sicherlich sinnvoll und nützlich ist auch die e2A-Durchdringung. Die Richterin oder der Richter kann bei der Bearbeitung der elektronischen Akte diese mit eigenen Anmerkungen und Markierungen versehen, die als Sprungmarken dienen. Auch kann hieraus ein Inhaltsverzeichnis generiert werden. Im Grunde erschließt das Programm die bislang meist handschriftlich vorgenommene Relationstabelle. 2. TEXTVERGLEICH UND SEINE RISIKEN Haben diese Programme gemein, dass sie die eigentliche richterliche Arbeit erleichtern, aber nicht ersetzen, wirft das Programm e2A-Textvergleich deutlich kritischere Fragen auf. Den OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten geht es um eine Reaktion auf industriell hergestellte Klageschriftsätze. Dort, wo Anwältinnen und Anwälte nicht mehr individualisiert auf den Einzelfall bezogen arbeiten, sondern Schriftsätze industriell herstellen, will die Justiz gleichziehen. Zum einen haben die Berufungsgerichte versucht, industriell erstellten Berufungsbegründungen mit den Anforderungen an die Individualisierung der Berufungsbegründung entgegenzutreten.32 32 OLG Naumburg, Urt. v. 12.9.2019 – 1 U 168/18, NJ 2020, 75; OLG Köln, Urt. v. 30.6.2021 – 22 U 98/19, BeckRS 2021, 22745; BGH, Beschl. v. 7.5.2020 – IX ZB 62/18, NJ 2020, 404. Da allerdings die Anforderungen an die Berufungsbegründung nicht allzu hoch angesetzt werden dürfen, war dies nicht der Königsweg. Nunmehr, so die Idee, will durch KI eine Abweichung von ansonsten identischen Schriftsätzen herausgearbeitet werden.33 33 Eine vergleichbare Zielrichtung liegt der KI-Unterstützung für die Bearbeitung von Masseverfahren in Baden-Württemberg zu Grunde, laufende Nr. 13 des Grundsatzpapiers. Die Richterin oder der Richter müsste dann nicht mehr den ganzen Schriftsatz zur Kenntnis nehmen, sondern nur noch abweichende Stellen. Risikolos ist diese Idee weder rechtlich noch inhaltlich. Zum einen kann ein automatisierter Textvergleich dazu führen, dass die industriell hergestellten Schriftsätze ihrerseits mit automatisiert eingefügten Synonymen arbeiten. Der Textvergleich mag technisch auch dann noch möglich sein, verlässt aber die einfache Ebene des Wortvergleichs. In ihrer Konnotation stimmen Synonyme häufig nicht überein. Arbeitet die Richterin oder der WOLF, DER ZAUBER DER KI BRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 AUFSÄTZE 242

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