BRAK-Mitteilungen 5/2022

AUFSÄTZE DER ZAUBER DER KI DIE DISKUSSION UM DEN EINSATZ KÜNSTLICH INTELLIGENTER UND ALGORITHMISCHER SYSTEME IN DER JUSTIZ PROFESSOR DR. CHRISTIAN WOLF* * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Zivilprozessrecht und geschäftsführender Direktor des Instituts für Prozess- und Anwaltsrecht (IPA) an der Leibniz Universität Hannover. Zudem ist er Mitglied des Beirates der BRAK-Mitteilungen. Die gesetzgeberischen Bemühungen im Bereich der Digitalisierung der Justiz betrafen bislang elektronische Kommunikation und elektronische Aktenführung. Doch auch über die Digitalisierung der richterlichen Entscheidungsfindung mit Hilfe künstlich intelligenter oder algorithmischer Systeme wird diskutiert. Hochrangig besetzte Arbeitsgruppen aus der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit legten jüngst Diskussionspapiere hierzu vor. Der Autor geht der Frage nach, inwieweit künstliche Intelligenz (KI) und Algorithmen zur Entlastung der Justiz genutzt werden dürfen, und setzt sich kritisch mit den vorgeschlagenen KI-Projekten der Justiz auseinander. I. AUSGANGSPUNKT: ENTLASTUNG DER JUSTIZ In welchem Umfang sollen und in welchem Umfang dürfen die Gerichte Künstliche Intelligenz (KI) und algorithmische Systeme verwenden? Dieser Frage ist eine hochrangig besetzte Arbeitsgruppe, der u.a. sechs OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten und die BGH-Präsidentin angehörten, nachgegangen. Das Positionspapier wurde zur 74. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs im Mai dieses Jahres veröffentlicht.1 1 Grundlagenpapier zur 74. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs, nachfolgend Grundlagenpapier. Gleichfalls im Mai dieses Jahres wurden die Kieler Reformvorschläge für einen besseren Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit vorgelegt.2 2 Digitalisierung nutzen! Kieler Reformvorschläge für einen besseren Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit zur 84. Konferenz der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts sowie der Präsidentinnen und Präsidenten der Landesarbeitsgerichte am 24.5. 2022 in Kiel, nachfolgend Kieler Reformvorschläge. Zwar hat technischer Fortschritt die Produktionsbedingungen der Justiz schon immer verändert, wenngleich sich in der Justiz vielleicht manche Skurrilität länger gehalten hat als anderswo. Man denke nur an den badischen Aktenknoten. Auch wurde der Justiz eine längere Umsetzungsfrist für die elektronische Akte eingeräumt als der Anwaltschaft für die Benutzungspflicht des beA.3 3 § 130d ZPO einerseits und § 298a ZPO anderseits. Die gesetzgeberischen Bemühungen waren bislang auf die elektronische Kommunikation und Aktenführung gerichtet.4 4 Vgl. hierzu Müller, RDi 2021, 486 ff. Ziel war es, die elektronische Kommunikation auch im Bereich der Justiz durchzusetzen.5 5 Vgl. nur BT-Drs. 17/12634, 20. Die eigentliche Fallarbeit würde durch diese Maßnahmen des elektronischen Rechtsverkehrs nicht grundlegend geändert. Die elektronische Akte wird es zwar künftig erleichtern, die Dokumente zu durchsuchen und mehreren Personen ermöglichen, gleichzeig in der Akte zu arbeiten. Nach wie vor aber ist die eigentliche Fallbearbeitung eine individuelle von Hand durch die Richterin oder den Richter zu erledigende Aufgabe. Mit dieser Aufgabe hadert die Justiz aus verschiedenen Gründen. Obwohl die Eingangszahlen bei Gericht lange Zeit rückläufig waren,6 6 Meller-Hannich/Nöhre, NJW 2019, 2522 ff. haben die Gerichte insbesondere mit der industriellen Geltendmachung von Ansprüchen zu kämpfen.7 7 Vgl. Breidenbach, in Breidenbach/Glatz, Rechtshdb. Legal Tech, 37 ff. Dies zeigt sich u.a. bei der breitflächigen Einwerbung von Flugverspätungsansprüchen durch sog. Legal Tech-Unternehmen. Mit dem Dieselskandal ist die industrielle Produktionsweise auf breiter Front auch in der Justiz angekommen. Beschäftigten die Justiz zunächst Produktfehler meist als Ausreißer, führte die Abschalteinrichtung zu industriell produzierten Produktfehlern, welche wiederum zu industriell aus Bausteinen zusammengesetzten Klageschriftsätzen und Berufungsschriftsätzen führten. Schließlich führt auch die Bündelung von Schadensersatzansprüchen durch die Abtretung der Ansprüche an Inkassounternehmen (Sammelklage-Inkasso)8 8 Petrasincu/Unseld, NJW 2022, 1200 ff. zu einer erheblichen Belastung der Justiz. In dem LKW-Kartellverfahren vor dem LG München I haben 3.235 Zedenten ihre Schadensersatzansprüche aus 84.132 Erwerbsvorgängen an das Sammelklage-Inkassounternehmen abgetreten. Dabei fand der Kauf der LKWs in einer Vielzahl von europäischen Ländern statt, wie das LG München I ausführte.9 9 LG München I, Urt. v. 7.7.2020 – 37 O 18934/17, BeckRS 2020, 841 = BRAK-Mitt. 2020, 235 Ls. Insbesondere die OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten suchten nach Abhilfemöglichkeiten. Zunächst griffen sie die Vorschläge für einen strukturierten Parteivortrag10 10 Vorwerk, NJW 2017, 2326 undGaier, NJW 2013, 2871. auf und entwickelten ein eigenes Modell eines BasisdoBRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 AUFSÄTZE 240

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