BRAK-Mitteilungen 6/2025

[133] Grundrechtseingriffe dürfen nicht weiter gehen, als es der Schutz des Gemeinwohls erfordert. Daran noch erforderlich fehlt es, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Erreichung des Gemeinwohlziels zur Verfügung steht, das den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen. Ein in diesem Sinne milderes Mittel ist vorliegend nicht verfügbar. [134] aa) Eine allgemein angehobene Altersgrenze – etwa auf das vollendete fünfundsiebzigste oder achtzigste Lebensjahr – stellt kein milderes Mittel zur Erreichung der verfolgten Zwecke dar. Zwar griffe eine solche Regelung weniger stark in die Berufsfreiheit ein, doch wäre sie hinsichtlich aller drei Zwecke nicht gleich wirksam. Ältere Anwaltsnotare schieden erst zu einem späteren Zeitpunkt aus dem Amt aus, wodurch sich die Zahl der für den Berufsnachwuchs freiwerdenden Stellen jedenfalls in den Gebieten mit noch bestehendem Bewerberüberhang merklich verringerte. Ebenso verringerte sich die Zahl der altersbedingt nicht mehr ausreichend leistungsfähigen Notare, die von der Regelung erfasst werden. [135] bb) Im Ausgangspunkt Entsprechendes gilt, wenn die Altersgrenze nicht generell angehoben, sondern das Fortbestehen der Bestellung über das siebzigste Lebensjahr hinaus an die fortdauernde berufliche Leistungsfähigkeit des Anwaltsnotars geknüpft würde. Auch eine solche Regelung führte zu einem weniger intensiven Grundrechtseingriff. Denn das Erlöschen des Notaramts allein im Falle mangelnder Leistungsfähigkeit wiegt weniger schwer als ein genereller Amtsverlust aufgrund einer starren Altersgrenze. Diese Einschätzung der Eingriffsintensität wird nicht deshalb entkräftet, weil die Leistungsfähigkeit regelmäßig überprüft werden müsste. [136] Eine Leistungsfähigkeitsprüfung im Einzelfall wäre jedoch in ihrer Wirksamkeit nicht gleichwertig, was die Zwecke der geordneten Altersstruktur im Interesse funktionstüchtiger Rechtspflege und der gerechten Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen betrifft. Denn legt man die Stellungnahmen des Deutschen Zentrums für Altersfragen und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie zugrunde, wäre der Anteil der altersbedingt nicht mehr ausreichend leistungsfähigen Notare in der Altersgruppe ab dem vollendeten siebzigsten Lebensjahr eher gering. Dementsprechend führte die Regelung – ähnlich wie Maßnahmen nach § 50 I Nr. 7 BNotO – voraussichtlich nur zum Ausscheiden einer relativ kleinen Zahl von Notaren. Dies verringerte die Zahl der freiwerdenden Stellen im Vergleich zur jetzigen starren Altersgrenze. [137] Vor Gefahren durch die altersbedingt nachlassende Leistungsfähigkeit von Notaren könnte die Regelung zwar zielgenauer schützen. Demgegenüber käme es jedoch zu einer finanziellen Mehrbelastung der Allgemeinheit. Denn die regelmäßige Überprüfung der beruflichen Leistungsfähigkeit älterer Anwaltsnotare wäre voraussichtlich mit einem nicht unerheblichen Verwaltungsaufwand verbunden. [138] cc) Eine örtliche Beschränkung der Altersgrenze auf solche Amtsgerichtsbezirke des Anwaltsnotariats, in denen ein Bewerberüberhang besteht, könnte an eine – inzwischen aufgehobene – sozialrechtliche Vorschrift anknüpfen, die regionale, bedarfsabhängige Ausnahmen von der Altersgrenze für Vertragsärzte vorsah (vgl. § 95 VII SGB V in der Fassung v. 22.12.2006, BGBl I S. 3439). Sie stellt jedoch ebenfalls kein gleich wirksames Mittel dar, das die Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. [139] Die Eingriffsintensität wäre angesichts der kleineren Zahl Betroffener zwar geringer, da die Altersgrenze nur noch in wenigen Regionen gölte. Dementsprechend wäre der Gesetzeszweck des Schutzes vor Gefahren durch die altersbedingt nachlassende Leistungsfähigkeit von Notaren allerdings nur eingeschränkt zu verwirklichen, es sei denn, sie wäre mit einer verpflichtenden Überprüfung der Leistungsfähigkeit verbunden. Hinsichtlich der Zwecke der geordneten Altersstruktur im Interesse funktionstüchtiger Rechtspflege und der gerechten Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen wäre die Regelung zwar gleich wirksam. Es liegt aber im Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, eine solche Regelung als mit erhöhten Belastungen für Berufsträger, Rechtsuchende und Justizverwaltung verbunden zu bewerten. Denn das Verhältnis von Bewerberzahl und Stellenangebot kann regional stark schwanken, selbst in Zeiten eines fast flächendeckenden Bewerbermangels. Eine dauerhafte und verlässliche Festlegung regional differenzierter Altersgrenzen würde dadurch erschwert. Dies brächte für ältere Anwaltsnotare erhebliche Unsicherheiten für ihre berufliche Perspektive mit sich und erschwerte ihre Planung – etwa in Bezug auf die Zugehörigkeit zu Sozietäten – erheblich. Auch für Rechtsuchende ergäben sich Unsicherheiten, wenn sie ältere Notare mandatierten, deren Berufsausübung von einer unklaren örtlichen Regelung abhängt. Schließlich wäre auch die regelmäßige, rechtssichere Neubewertung des Bedarfs in jedem einzelnen Amtsgerichtsbezirk mit erheblichem Verwaltungsaufwand verbunden. [140] dd) Eine Erleichterung des Zugangs zum AnwaltsHerabsetzen der Zugangsvoraussetzungen? notariat durch Herabsetzen der Zugangsvoraussetzungen, um die Bewerberzahl zu erhöhen, wie dies teils in den Stellungnahmen und in der mündlichen Verhandlung vorgebracht worden ist, stellt ebenfalls kein milderes Mittel im verfassungsrechtlichen Sinn dar. [141] In Betracht kämen hierzu Änderungen der Bundesnotarordnung mit dem Ziel, die Attraktivität und Wirtschaftlichkeit der Anwaltsnotariate zu erhöhen. So BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 6/2025 479

RkJQdWJsaXNoZXIy ODUyNDI0