erreicht die mit ihr verfolgten legitimen Ziele – die Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der vorsorgenden Rechtspflege sowie einer (gerechten) Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen und den Schutz der Rechtspflege vor Gefahren durch eine altersbedingt nachlassende Leistungsfähigkeit von Notaren – infolge eines nachhaltigen Bewerbermangels im Anwaltsnotariat und der heutigen Erkenntnisse zur Bedeutung des Alters für die Berufstüchtigkeit nur noch zu einem geringen Grad und schränkt die Berufsfreiheit unverhältnismäßig ein, soweit sie das Anwaltsnotariat betrifft. BVerfG, Urt. v. 23.9.2025 – 1 BvR 1796/23 AUS DEN GRÜNDEN: [1] A. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die gesetzliche Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebensjahres für das Notaramt nach §§ 47 Nr. 2 Var. 1, 48a BNotO mit dem Grundgesetz im Einklang steht, soweit sie das Anwaltsnotariat betrifft. (...) [37] II.1. Der im Jahr 1953 geborene Beschwerdeführer ist seit 1983 zur Rechtsanwaltschaft zugelassen. Im Jahr 1992 wurde er als Notar zu gleichzeitiger Amtsausübung neben dem Beruf des Rechtsanwalts (Anwaltsnotar) bestellt. Ihm wurde ein Amtssitz in Dinslaken im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf zugewiesen. Sein Notaramt ist durch Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebensjahres mit Ablauf des 30.11.2023 erloschen. Inzwischen ist der Beschwerdeführer zum ständigen Notarvertreter einer Anwaltsnotarin bestellt worden, deren Sozius als Rechtsanwalt er ist. (...) [102] C. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich mittelbar gegen die Regelung der Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebensjahres nach §§ 47 Nr. 2 Var. 1, 48a BNotO wendet. Diese ist mit Art. 12 I GG nicht vereinbar, soweit sie das Anwaltsnotariat betrifft. Sie greift unverhältnismäßig in die Berufsfreiheit der Anwaltsnotare ein. Zurückzuweisen ist die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich unmittelbar gegen das Urteil des BGH wendet, das auf der Regelung beruht. Es hat auf Grundlage der getroffenen Fortgeltungsanordnung Bestand. [103] I.1. Art. 12 I GG ist ein einheitliches Grundrecht, das Wahl und Ausübung des Berufs schützt (vgl. BVerfGE 7, 377 ‹ 400 f. 8 ; 161, 63 ‹ 89 8 – Windenergie-Beteiligungsgesellschaften). Die Berufsfreiheit umfasst eine wirtschaftliche und eine auf die Entfaltung der Persönlichkeit bezogene Dimension (vgl. BVerfGE 7, 377 ‹ 397 8 ; vgl. auch BVerfGE 50, 290 ‹ 362 8 ; 110, 226 ‹ 251 8 ). Sie konkretisiert das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung sowie der Existenzgestaltung und -erhaltung. Die Gewährleistung zielt auf eine möglichst unreglementierte berufliche Betätigung ab (vgl. BVerfGE 163, 107 ‹ 134 Rn. 73 8 – Tierarztvorbehalt). Die Berufsfreiheit schützt zudem die Ausübung von Nebenberufen (vgl. BVerfGE 110, 304 ‹ 321 8 ) und umfasst auch staatlich gebundene Berufe (BVerfGE 131, 130 ‹ 139 8 ). Die Tätigkeit als Anwaltsnotar, die gem. § 3 II BNotO neben dem Beruf des Rechtsanwalts ausgeübt wird und staatlich gebunden ist, fällt danach in den sachlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG (vgl. BVerfGE 131, 130 ‹ 139 8 ). [104] 2. Die Altersgrenze nach §§ 47 Nr. 2 Var. 1, 48a BNotO greift in den Schutzbereich ein. Sie beschränkt die Berufswahlfreiheit unmittelbar, indem die betroffenen Berufsträger von der weiteren Tätigkeit als Anwaltsnotar ausgeschlossen sind. Ihr Beruf ist kraft Gesetzes mit Erreichen der Altersgrenze beendet. Über eine Fortsetzung ihrer Notartätigkeit können sie nicht selbst entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats v. 29.10.1992 – 1 BvR 1581/91 Rn. 5). [105] 3. Dieser Eingriff ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Art. 12 I 2 GG steht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt (vgl. BVerfGE 141, 82 ‹ 98 Rn. 47 m.w.N. 8 ; 145, 20 ‹ 67 Rn. 121 8 ; st.Rspr.). Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung setzt daher voraus, dass die mittelbar angegriffene Regelung nach §§ 47 Nr. 2 Var. 1, 48a BNotO formell und materiell verfassungsgemäß ist (vgl. BVerfGE 6, 32 ‹ 41 8 ; 163, 107 ‹ 136Rn. 77 8 ). [106] Zwar ist die angegriffene Regelung formell verfassungsgemäß, insb. nach Art. 74 I Nr. 1 GG kompetenzgemäß erlassen. Der Eingriff in die Berufsfreiheit ist jedoch unverhältnismäßig und steht daher in materieller Hinsicht nicht mit Art. 12 I GG im Einklang, soweit die Regelung auf Anwaltsnotare anwendbar ist. [107] Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Gesetzgeber mit der angegriffenen Regelung einen legitimen Zweck verfolgt, der Eingriff geeignet ist, den legitimen Zweck zu erreichen, und nicht weiter geht, als es die Gemeinwohlbelange erfordern, also auch sonst kein gleich wirksames, aber milderes Mittel besteht. Die Regelung darf die Grundrechtsträger schließlich nicht unzumutbar belasten (vgl. BVerfGE 141, 121 ‹ 133 Rn. 40 8 ; 148, 40 ‹ 52 Rn. 30 8 ; 155, 238 ‹ 278 Rn. 99 8 ; 163, 107 ‹ 138 Rn. 83 8 ). Auch eine zunächst verfassungskonforme Regelung kann verfassungswidrig werden, wenn sich die Verhältnisse dergestalt ändern, dass die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht mehr erfüllt werden (vgl. BVerfGE 132, 334 ‹ 358 Rn. 67 8 ; 150, 1 ‹ 90 Rn. 176 8 ; 158, 282 ‹ 346 Rn. 155, 366 Rn. 200). [108] Die mittelbar angegriffene Regelung in §§ 47 Nr. 2 Var. 1, 48a BNotO ist danach unter den heutigen Gegebenheiten nicht verfassungsgemäß. Die Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebensjahres dient zwar legitimen Zwecken (a) und ist grundsätzlich noch geeignet (b) und erforderlich (c), um diese Zwecke zu erreichen. Jedoch fehlt es an der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, weil sie unter den heutigen Rahmenbedingungen die Grundrechtsträger unzumutbar belastet (d). [109] a) Die Altersgrenze nach §§ 47 Nr. 2 Var. 1, 48a BNotO verfolgt verfassungsrechtlich legitime Zwecke. BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 6/2025 475
RkJQdWJsaXNoZXIy ODUyNDI0