BRAK-Mitteilungen 5/2025

das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen Ermittlungsinteressen und -befugnisse einerseits sowie dem Schutzbereich des anwaltlichen Berufsgeheimnisses andererseits. 1. ERFORDERLICHKEIT EINES UNMITTELBAREN MANDATSVERHÄLTNISSES Während der Gerichtshof in letztgenannter Entscheidung die ungerechtfertigte Verletzung des Art. 8 EMRK feststellte, wies er mit Beschluss v. 21.11.2024 (Nr. 1022/19 und 1125/19) die Beschwerden der Rechtsanwälte der Kanzlei Jones Day gegen die Durchsuchung ihrer Münchner Kanzleiräume im Zusammenhang mit dem „Dieselkomplex“ als unzulässig zurück. Der EGMR stellte entscheidend darauf ab, dass kein unmittelbares Mandatsverhältnis zwischen der Kanzlei und dem betroffenen Unternehmen (Audi) im Kontext der deutschen Strafverfolgung bestand. Im Ausgangsfall ging es um die Durchsuchung der Münchener Kanzleiräume der US-amerikanischen Sozietät im Zusammenhang mit der Diesel-Affäre. Die Kanzlei war von der Volkswagen AG mit internen Untersuchungen, darunter Befragungen der Angestellten der Tochtergesellschaft Audi, sowie mit der Vertretung vor US-amerikanischen Gerichten beauftragt worden. Am 15.3.2017 durchsuchten Ermittlungsbehörden auf Anordnung der Staatsanwaltschaft München II die Büros der Kanzlei und stellten umfangreiche Dokumente sicher, darunter elektronische Kommunikationsdaten sowie 185 physische Aktenordner.11 11 EGMR, Beschl. v. 21.11.2024 – Nr. 1022/19 und 1125/19 Rn. 7 f. Hintergrund war der Verdacht, dass die ermittelten Informationen für ein gegen Audi geführtes Strafverfahren relevant sein könnten. Die Kanzlei machte geltend, die Durchsuchung verletze das anwaltliche Berufsgeheimnis gem. Art. 8 EMRK sowie das strafprozessuale Beschlagnahmeverbot nach § 97 StPO. Der EGMR bestätigte die vorausgegangenen Annahmen der nationalen Gerichte, einschließlich des BVerfG: Zwar bejahte er einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung der Korrespondenz und der Kanzleiräume. Der Eingriff sei hier jedoch gerechtfertigt gewesen. Maßgeblich war aus Sicht des EGMR, dass Audi als Tochtergesellschaft der Volkswagen AG nicht unmittelbar Mandantin der Kanzlei gewesen sei12 12 EGMR, Beschl. v. 21.11.2024 – Nr. 1022/19 und 1125/19 Rn. 24. und es daher bereits an einem durch § 97 StPO geschützten Mandatsverhältnis fehlte. Die Beauftragung der Kanzlei war gerade primär auf eine interne Untersuchung und rechtliche Vertretung von VW in den USA beschränkt, nicht jedoch auf die Vertretung und Verteidigung im deutschen Ermittlungsverfahren. Die Durchsuchung sei richterlich angeordnet, überprüfbar und zudem angesichts der Schwere der in Rede stehenden Vorwürfe – konkret 80.000 Betrugsfälle13 13 EGMR, Beschl. v. 21.11.2024 – Nr. 1022/19 und 1125/19 Rn. 21. – und der Zielrichtung der Maßnahme als verhältnismäßig zu bewerten. Allen voran, da die Beschlagnahmung ihrem Umfang nach nicht willkürlich erfolgte.14 14 EGMR, Beschl. v. 21.11.2024 – Nr. 1022/19 und 1125/19 Rn. 22. Der Gerichtshof hob außerdem hervor, dass das deutsche Strafprozessrecht – namentlich § 160a und § 97 StPO – hinreichende prozedurale Garantien vorsehen, um den Schutz vertraulicher Kommunikation sicherzustellen; zumindest bestünden für den EGMR hieran keine Zweifel.15 15 EGMR, Beschl. v. 21.11.2024 – Nr. 1022/19 und 1125/19 Rn. 15, 24. 2. FEHLENDE SCHUTZMECHANISMEN GEGEN WILLKÜRLICHE EINGRIFFE Demgegenüber steht das Urteil Neziri´c v. Bosnien und Herzegowina v. 5.11.2024, in dem der EGMR im konkreten Fall zu einer ungerechtfertigten Verletzung des Art. 8 EMRK gelangt und die Beschlagnahmung von Daten eines Rechtsanwalts rügte. Konkret wurde im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen gegen Letztgenannten sein Mobiltelefon beschlagnahmt und der gesamte Inhalt – ohne seine oder die Anwesenheit eines Kammervertreters – nach umfassender Kopieerstellung, an einem anderen Ort durchsucht. Der gesicherte Datensatz wurde ungefiltert als Beweismittel in das strafrechtliche Verfahren gegen den Anwalt und späteren Beschwerdeführer eingeführt. Der Gerichtshof stellte in seinem Urteil eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, die er in diesem konkreten Fall auch angesichts der Eingriffsintensität nicht als gerechtfertigt ansah. Entscheidend sei, dass der Staat sicherzustellen habe, dass eine Maßnahme in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht zu einer faktischen Aushebelung des Berufsgeheimnisses führe. Im konkreten Fall bemängelte der EGMR, dass das nationale bosnischherzegowinische Recht keine ausreichenden Schutzmechanismen gegen willkürliche Eingriffe vorsieht. Weder der vom Ermittlungsrichter erlassene Durchsuchungsbeschluss noch die Anordnung der Staatsanwaltschaft zur Auswertung des Mobiltelefons berücksichtigten das anwaltliche Berufsgeheimnis und den Schutz der diesem unterfallenden privilegierten Informationen.16 16 EGMR, Urt. v. 5.11.2024 – Neziri´c v. Bosnia and Herzegovina Rn. 14. Dass der gesamte Datenbestand – einschließlich potenziell sensibler Mandantenkommunikation – ungefiltert in das Verfahren eingeführt wurde, sei mit der Systematik des Schutzes aus Art. 8 EMRK unvereinbar.17 17 EGMR, Urt. v. 5.11.2024 – Neziri´c v. Bosnia and Herzegovina, Rn. 15 f. 3. SNEAK PEAK Bereits zu Beginn 2025 reihte sich die nächste Entscheidung des EGMR zu dem Fall Kaveˇcansk´y gegen die Slowakei18 18 EGMR Urt. v. 29.4.2025 – Kaveˇcansk´y v. Slowakei (Beschwerdenr. 49617/22). ein, in dem der Gerichtshof die Durchsuchung eines Notarbüros auf ihre Unionskonformität hin prüfte. Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft wurde 2021 die Kanzlei des Notars Kaveˇcansk´y wegen des Verdachts der Unterschlagung durchsucht – ohne richterliche Genehmigung, wie es das slowakische Strafrecht zulässt. Der EGMR stellte auch in diesem Fall klar, dass das nationale Recht Schutzmechanismen gegen Willkür i.S.d. WIETOSKA, ANWALTSRECHT UND DIE RECHTSBERATUNG IM FOKUS EUROPÄISCHER GERICHTE BRAK-MITTEILUNGEN 5/2025 AUFSÄTZE 340

RkJQdWJsaXNoZXIy ODUyNDI0