Soweit die Theorie – wenn aber ein Gericht gleichwohl nicht vorlegt, ist zu überprüfen, ob die Begründung hierfür den unionsrechtlichen Vorgaben für Ausnahmen von der Vorlagepflicht genügt, mithin darauf eingeht, ob die Frage(n) für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheblich ist/sind, die in Rede stehende(n) Bestimmung(en) des Unionsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war(en) oder dass die richtige Auslegung des EU-Rechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.33 33 EuGH, Urt. v. 15.10.2024 – Rs. C-144/23, Tenor zu 2, Rn. 65; dort heißt es: „den Antrag auf Zulassung der Revision zurückgewiesen“. Dabei handelt es sich indes wieder um unbestimmte Rechtsbegriffe, für die oft klare, trennscharfe und belastbare Abgrenzungskriterien fehlen. Zu beachten ist zudem, dass bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen für deren Rechtskonformität grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich sind; das Unionsrecht hat hier – nach Maßgabe von Art. 51 I 2 EUGRCh, Art. 6 I EUV – gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes Anwendungsvorrang.34 34 BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, Rn. 42, BVerfGE 152, 216. All diese Klärungsarbeit ist für einen (wie auch immer zu bestimmenden) „durchschnittlichen Rechtsanwalt“ im Rahmen der täglichen Arbeit schwerlich, kaum oder allenfalls gerade noch zu leisten. Noch komplexer und letztlich überobligatorisch wird die Thematik, wenn die Begründung der Nichtvorlage den vorgenannten Anforderungen (vermeintlich) nicht genügt. Dann stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen die Anhörungsrüge35 35 Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügegesetz) v. 9.12.2004, BGBl. I, S. 3220. Mit dem Gesetz wurden in allen Prozessordnungen eigens normierte Anhörungsrügen eingeführt. Nach Ansicht des BFH hat der Gesetzgeber damit angeordnet, Fragen der Verletzung rechtlichen Gehörs einer nochmaligen fachgerichtlichen Selbstkontrolle zu unterwerfen, BFH, Urt. v. 10.10. 2023 – IX K 1/21 Rn. 19, BFHE 281, 503. (z.B. § 321a ZPO) oder die Verfassungsbeschwerde (Art. 94 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) der richtige Rechtsbehelf ist. Die Frage ist deshalb besonders haftungsträchtig, weil der Gesetzgeber das Ineinandergreifen bzw. Zusammenspiel beider Rechtsbehelfe gesetzlich nicht geregelt hat und unterschiedliche Fristen gelten. So ist die Anhörungsrüge binnen einer Notfrist von zwei Wochen zu erheben (§ 321a II ZPO), während die Verfassungsbeschwerde innerhalb eines Monats nicht nur zu erheben, sondern auch zu begründen ist (§ 93 I BVerfGG). Zwar gehört auch die Anhörungsrüge zum Rechtsweg des § 90 II BVerfGG, hält aber die Monatsfrist in Fällen der „offensichtlichen Unzulässigkeit“ nicht offen.36 36 BVerfG, Beschl. v. 14.5.2007 – 1 BvR 730/07 – unzulässige Anhörungsrüge, Rn. 9, NJW-RR 2008, 75. Eine „offensichtliche Unzulässigkeit“ hat das BVerfG aber auch (nachträglich) sogar in Fällen angenommen, in denen das angerufene Gericht die Anhörungsrüge als zulässig, aber unbegründet angesehen hat37 37 BVerfG, Beschl. v. 14.5.2007 – 1 BvR 730/07 – unzulässige Anhörungsrüge, Rn. 12, NJW-RR 2008, 75. – die „offensichtliche Unzulässigkeit“ der Anhörungsrüge erschließt sich hier auch auf den zweiten Blick nicht von selbst. Da die Parteien deshalb auch bei einer Sachentscheidung des angerufenen Gerichts nicht darauf vertrauen dürfen, das BVerfG werde eine Anhörungsrüge nicht nachträglich doch als offensichtlich unzulässig einstufen, besteht (immer?) die Gefahr, dass der Anhörungsrüge entgegengehalten werden kann, der richtige Rechtsbehelf sei die Verfassungsbeschwerde gewesen,38 38 Vgl. so wohl insgesamt BFH, Urt. v. 10.10.2023 – IX K 1/21 Rn. 17, BFHE 281, 503; dort heißt es, dass „eine willkürliche Verletzung der Vorlagepflicht (unmittelbar) mit der Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche Entscheidung geltend zu machen“ ist. Der Entscheid betrifft das Verhältnis zur Nichtigkeitsklage; die Anhörungsrüge (§ 133a FGO) wird zwar kurz angesprochen, das (Rang-)Verhältnis zur Verfassungsbeschwerde jedoch nicht erörtert. wogegen diese bei nicht erhobener Anhörungsrüge mangels Erschöpfung des Rechtsweges bereits unzulässig sein kann.39 39 BVerfG, Beschl. v. 14.7.2011 – 1 BvR 1468/11 Rn. 2 ff., BVerfGK 19, 23; zur Entbehrlichkeit der Anhörungsrüge BVerfG, Beschl. v. 16.7.2013 – 1 BvR 3057/11 – Anhörungsrügeverfahren, Rn. 21 ff., BVerfGE 134, 106. Dass solche komplexen Haftungsfragen auch Einfluss auf das Honorar haben müssen, aber durch die Regelungen des RVG nicht im Ansatz zutreffend abgebildet werden, bedarf keiner weiteren Erörterung. Im Ergebnis geht auch das freilich zu Lasten der Parteien, die deutliche Schwierigkeiten haben dürften, wegen der komplexen rechtlichen Fragen und der damit verbundenen Haftung Rechtsanwältinnen bzw. Rechtsanwälte zu finden, die innerhalb der kurzen Fristen bereit (und fachlich in der Lage) sind, ein solches Mandat überhaupt zu übernehmen. Auch so kann man die Justiz entlasten. III. FAZIT Die wesentlichen Rechtsakte der Europäischen Union bilden Verordnungen und Richtlinien; jene haben unmittelbare Geltung, Richtlinien bedürfen der Transformation in das jeweilige nationale Recht. Auch die in letzteren verwendeten Begriffen sind „unionsrechtlich autonom“, d.h. in der gesamten EU eigenständig und einheitlich auszulegen. Hierzu ist ausschließlich der EuGH befugt; er ist insoweit der gesetzliche Richter i.S.d. Art. 101 I 2 GG. Stellen sich in einem Verfahren vor einem einzelstaatlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des nationalen Rechts angefochten werden können, Auslegungsfragen zum Unionsrecht, so ist jedes Gericht nach Art. 267 III AEUV von Amts wegen zur Anrufung des EuGH verpflichtet. Allerdings hat das BVerfG nicht in jeder Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht auch einen Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG gesehen. Das hat der EuGH in einer neueren Entscheidung, in der es um die Nichtzulassung der Revision ging, dahin präzisiert, dass ein nationales Gericht einen solchen Antrag nicht zurückweisen darf, ohne geprüft zu haben, ob es verpflichtet war, dem Gerichtshof eine entscheidungserhebliche Frage vorzulegen. LÜTKE/GRAMLICH, UNIONSRECHTLICHE VORLAGEPFLICHT, ANWALTLICHER SACHVORTRAG UND RECHTSWEG AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 2/2025 101
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