die allerdings durch das „Richterprivileg“20 20 Zum Richterprivileg s. etwa BVerfG, Beschl. v. 22.8.2013 – 1 BvR 1067/02 Rn. 35 ff., NJW 2013, 3630; zu Untätigkeit und überlanger Verfahrensdauer; BGH, Urt. v. 3.7.2003 – III ZR 326/02 Rn. 2, BGHZ 155, 306; BGH, Urt. v. 23.10.2003 – III ZR 9/03 Rn. 27, NJW 2003, 3693. in §839 II BGB deutlich eingeschränkt wird. Derart privilegierte Fehlurteile werden von den Betroffenen dann im buchstäblichen Sinne als richterliche „Gewalt“ wahrgenommen werden. Der Möglichkeit, auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts Einfluss zu nehmen, entspricht im Verhältnis zum Mandanten die Pflicht des Anwalts, diese Möglichkeit zu nutzen. Mit Rücksicht auf das auch bei Richtern unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums sei der Rechtsanwalt gehalten, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken. Dies entspräche auch dem Selbstverständnis der Anwaltschaft (§ 1 III BORA).21 21 BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 179/07 Rn. 8, NJW 2009, 987 m.w.N. Der in diesem Zusammenhang oft zitierte Satz „iura novit curia“ hilft Anwältinnen und Anwälten gerade nicht weiter, denn er gilt nach Ansicht des BGH nur im Verhältnis der Gerichte gegenüber der juristisch nicht gebildeten „Naturalpartei“.22 22 BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 179/07 Rn. 8, NJW 2009, 987 m.w.N. Gerade der Anwaltszwang (§ 78 ZPO), der die Prozessparteien mit zusätzlichen Kosten belastet und ihren Zugang zu den staatlichen Gerichten einschränkt, wäre nicht zu erklären, wenn Aufgabe des Anwalts allein die Beibringung des Tatsachenmaterials wäre und nicht auch die rechtliche Durchdringung des Falles.23 23 BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 179/07 Rn. 8, NJW 2009, 987 m.w.N. Der bloße Hinweis auf eine von der Rechtsansicht des angerufenen Gerichts abweichende höchstrichterliche Rechtsauffassung reicht dabei noch nicht aus, entgegenstehende Entscheidungen des BGH sind vielmehr konkret zu zitieren.24 24 BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 179/07 Rn. 13, NJW 2009, 987 m.w.N. Überzeugend oder gar zwingend ist das freilich nicht, denn hierbei wird vorausgesetzt, dass die Justiz Rechtsanwälten mindestens gleichwertige, wenn nicht sogar bessere Rechtskenntnis zuerkennt als dem je erkennenden Gericht.25 25 Medicus, AnwBl. 2004, 257; dort: „dass der Rechtsanwalt bessere Rechtskenntnis hat, als das entscheidende Gericht!“. Die tägliche Praxis zeigt das genaue Gegenteil, zumal die Recherchemöglichkeiten tatsächlich ebenfalls ungleich gegeben sein dürften. Faktisch geht es daher um die Abwälzung der Verantwortung rechtlich falscher Entscheidungen (für die die Justiz gerade keine Verantwortung übernimmt) auf die (haftpflichtversicherten) Anwälte. Im Ergebnis geht das Risiko einer unzulänglich oder fehlerhaft arbeitenden Justiz damit vollständig zu Lasten der Rechtsuchenden.26 26 Jäger, NJW 2004, 1; Medicus, AnwBl. 2004, 257; dort heißt es jeweils: „voll zu Lasten“. 2. ANWALTLICHE ÜBERPRÜFUNGSPFLICHT, ANTRAG AUF UNIONSRECHTLICHE VORLAGE UND BEFANGENHEIT Denkt man die soeben dargestellte Rechtsprechung konsequent zu Ende, ergeben sich für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte aus der oben (I.2.) genannten neuen Entscheidung des EuGH jedenfalls in Fällen, in denen kein förmlicher Rechtsbehelf mehr gegeben ist, und auch in Bezug auf die Nichtzulassung der Revision erweiterte, komplexe anwaltliche Sorgfalts-, Prüfungs- und Vortragspflichten. So ist in diesen Fällen stets zu prüfen, ob und welche unionsrechtlichen Vorgaben bestehen (und wo ist das angesichts der Vielzahl und Unübersichtlichkeit der EU-Rechtsetzung nicht der Fall?),27 27 Beispielhaft sei hier die HinSchRL genannt, die über 120 im Anhang genannte Unionsrechtsakte in ihren Geltungsbereich einbezieht, s. Gramlich/Lütke (Fn. 2), § 2 HinSchG, Rn. 1 ff. ob diese unionsrechtlich autonome Begriffe enthalten und (ob und) wie diese in nationales Recht übernommen bzw. dort umgesetzt wurden, was sich letztlich nur an Hand der jeweiligen Gesetzesmaterialien überprüfen lässt.28 28 Wobei die historisch-genetische zudem nicht die wichtigste oder gar allein bedeutsame Auslegungsmethode bildet. Das ist dann besonders problematisch, wenn Begriffe aus der deutschen Fassung einer Richtlinie – d.h. mit Bezug auf eine einzige Amtssprache – im nationalen Recht lediglich wiederholt, gleichwohl die unionsrechtlichen Vorgaben nicht (vollständig) umgesetzt werden. Hernach ist zu klären, ob die Auslegung der im Streitfall entscheidungserheblichen unionsrechtlich autonomen Begriffe bzw. Tatbestandsmerkmale bereits vom EuGH konkretisiert wurde.29 29 Auch dürfte aus der Verbindlichkeit aller amtssprachlichen Versionen folgen, dass nur Entscheidungen des EuGH mit Bezug zur deutschen Fassung einer EU-Regelung maßgeblich sein können. In den meisten Fällen wird, wenn eine solche Klarstellung noch aussteht, ein Antrag auf Vorlage an den EuGH angezeigt sein. Diese Frage sollte von jeder Rechtsanwältin bzw. jedem Rechtsanwalt in einer mündlichen Verhandlung bereits deshalb zwingend angesprochen und der Antrag protokolliert werden, da die unterbliebene Vorlage an den EuGH nach Ansicht des LG Stuttgart eine „strukturelle Befangenheit“ des angerufenen Gerichts verdeutlicht, (weil und) wenn es sich anmaßt, letztverbindlich europäische Normen auslegen zu wollen.30 30 LG Stuttgart, Beschl. v. 18.9.2020 – 3 O 236/20 Rn. 19; dort: „strukturelle Befangenheit des Senats“. In der Konsequenz besteht damit bei einer entsprechenden Haltung des Gerichts eine (zwingende) Verpflichtung zur Stellung eines Befangenheitsantrags (§ 42 I, II ZPO), was wohl kaum gewollt oder erwünscht sein kann. Eine gewisse Entlastung bietet die Vorgabe des BVerfG, dass ein Gericht – nach Vorgaben des BGH aber wohl nur nach entsprechendem anwaltlichen Sachvortrag – sich hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig zu machen hat, die etwaige einschlägige Rechtsprechung des EuGH auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren muss.31 31 BVerfG, Beschl. v. 4.3.2021 – 2 BvR 1161/19 Rn. 55, NJW-RR 2021, 617. Alle Fachgerichte haben sich daher bei Auslegung und Anwendung des Unionsrechts selbstständig mit der Frage auseinanderzusetzen, ob in Bezug auf eine entscheidungserhebliche EU-Norm weiterer Klärungsbedarf und – damit verbunden – die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH besteht.32 32 BVerfG, Beschl. v. 6.10.2017 – 2 BvR 987/16 Rn. 17, NJW 2018, 606. BRAK-MITTEILUNGEN 2/2025 AUFSÄTZE 100
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