UNIONSRECHTLICHE VORLAGEPFLICHT, ANWALTLICHER SACHVORTRAG UND RECHTSWEG – EINE (NEUE) HAFTUNGSFALLE DR. HANS-JOSEF LÜTKE UND UNIV.-PROF. I.R. DR. LUDWIG GRAMLICH* * Der Autor Lütke ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht in Chemnitz. Der Autor Gramlich ist Universitäts-Prof. i.R. Beide Autoren sind die Verfasser des Kommentars „GeschGehG HinSchG – Spannungsverhältnis zwischen Schutz von Geschäftsgeheimnissen und Whistleblowing“, 2024, und der flankierenden Einführung „Geschäftsgeheimnisse & Whistleblowing – Leitfaden zum richtigen Umgang in der täglichen Praxis“, 2023. Die autonome Auslegung unionsrechtlicher Begriffe hat erheblichen Einfluss auf die anwaltliche Pflicht, dem Mandanten den sichersten Weg zur Verwirklichung seiner Interessen zu weisen. In einer aktuellen Entscheidung hat der EuGH die Frage präzisiert, wann ein Gericht eine Frage dem EuGH vorlegen muss. Die Autoren zeigen auf, dass dies ganz erhebliche Auswirkungen auf die Verpflichtung zum anwaltlichen Sachvortrag hat und auch zur anwaltlichen Pflicht führen kann, die Vorlage an den EuGH zu beantragen bzw. einen Befangenheitsantrag zu stellen. Sie erläutern inwiefern dies, zusammen mit den vom BVerfG gestellten Anforderungen an Verfassungsbeschwerden und Anhörungsrügen, zur Haftungsfalle werden kann. I. UNIONSRECHTLICHE VORGABEN 1. RECHTSAKTE DER EU Nach Art. 288 AEUV1 1 Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (216/C 202/01), ABl. C 202 v. 7.6.2016, S. 47. gehören zu den Rechtsakten der Europäischen Union neben Beschlüssen, Empfehlungen und Stellungnahmen vor allem (als striktes Recht) Verordnungen und Richtlinien. Verordnungen haben allgemeine Geltung; sie sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Abs. 2). Richtlinien hingegen sind nur für den je adressierten Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen diesem jedoch die Wahl der Form und der Mittel (Abs. 3), bedürfen deshalb zwingend einer Umsetzung in die jeweilige nationale Rechtsordnung. Nur diese beiden, nicht auch die weiteren, teils zudem unverbindlichen Rechtsakte sind für den im Folgenden erörterten Zusammenhang von Bedeutung. 2. UNIONSRECHTLICH AUTONOME BEGRIFFE In Richtlinien (dort meist in den Regelungen zu „Begriffsbestimmungen“) definierte Tatbestände enthalten oft „unionsrechtlich autonome“ Termini, bei denen im Hinblick auf Voraussetzung wie Umfang eines Rechts oder Anspruchs nicht mehr unmittelbar auf nationale Regelungen der Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden kann.2 2 BGH, Urt. v. 19.4.2007 – I ZR 35/04 – Internetversteigerung II Rn. 35, BGHZ 172,119; KG, Urt. v. 7.9.2018 – 5 U 118/17 Rn. 58; LG Hamburg, Urt. v. 1.6.2017 – 308 O 151/17 – Loulou -Rn. 29, GRUR-RR 2018, 97; Köhler/Feddersen/Alexander, 43. Aufl. 2025, § 1 GeschGehG Rn. 1.2; Gramlich/Lütke, GeschGehG HinschG 2024, § 2 Rn. 4. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH folgt aus dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, dass eine EU-rechtliche Vorschrift, soweit sie für einen bestimmten Begriff nicht ausdrücklich auf das Recht von Mitgliedstaaten verweist, in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss. Diese hat dann unter Berücksichtigung nicht nur des (nach allen Amtssprachen – Art. 342 AEUV, Art. 1 Verordnung Nr. 13 3 I.d.F. der Verordnung (EU) Nr. 517/2013 des Rates v. 13.5.2013, ABl. EU L 158/1 v. 10.6.2013. – gleichermaßen verbindlichen) Wortlauts der betreffenden Bestimmung, sondern auch ihres Kontexts und des mit der Regelung verfolgten Ziels zu erfolgen.4 4 EuGH, Urt. v. 8.3.2018 – Rs. C-395/16 Rn. 20, GRUR 2018, 612; Urt. v. 7.9.2017 – Rs. C-247/16 Rn. 31, NJW 2017, 3215; Urt. v. 19.7.2012 – Rs. C-33/11 Rn. 27, DB 2012, 1725. Mehr noch: das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung verpflichtet mitgliedstaatliche Gerichte auch, ihre (gefestigte) Rechtsprechung nötigenfalls aufzugeben oder zu modifizieren, wenn sie auf einer Interpretation des eigenen nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen und dem Verständnis des Unionsrechts unvereinbar ist.5 5 EuGH, Urt. v. 15.10.2014 – Rs. C-144/23 Rn. 52; dort heißt es „eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern“ Wollte man indes jeden in Unionsrechtsakten verwendeten (auch im nationalen Recht gebräuchlichen) Rechtsbegriff allein wegen dieser sprachlichen „Vereinnahmung“ durch EU-Rechtsetzung nur noch unionsrechtlich autonom auslegen wollen, würde dadurch zumindest im Bereich ausschließlicher oder geteilter EU-Verbandskompetenz (Art. 2 ff. AEUV) die Rechtsetzungsbefugnis des mitgliedstaatlichen Parlaments (etwa nach Art. 76, 78 GG) erheblich beeinträchtigt, wenn nicht gar faktisch bedeutungslos und würde zudem die Harmonisierungskompetenz der EU aufgrund des Art. 114 AEUV missverstanden. Die Bejahung des Vorliegens unionsrechtlich autonomer Begriffe setzt vielmehr voraus, dass ein entsprechender Vereinheitlichungswille sich wenigstens im Ansatz dem je konkreten, kompetenzgemäß legitimen Unionsrechtsakt entnehmen lässt.6 6 Gramlich/Lütke (Fn. 2), § 3 GeschGehG Rn. 27. Daraus ergeben sich erhebliche Auswirkungen auf die anwaltliche Verpflichtung, dem Mandanten den sichersten Weg zu weisen, um zu seinem Recht zu gelangen.7 7 S. etwa BGH, Urt. v. 19.9.2024 – IX ZR 130/23 Rn. 17, NJW 2024, 3523, zu Verjährungsfragen. 3. GESETZLICHER RICHTER UND VORLAGEPFLICHT Auch der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter i.S.d. grundrechtsgleichen Art. 101 I 2 GG.8 8 BVerfG, Beschl. v. 4.3.2021 – 2 BvR 1161/19 Rn. 53, NJW-RR 2021, 617; dort als In Bezug auf die Auslegung unionsrechtlich autoLÜTKE/GRAMLICH, UNIONSRECHTLICHE VORLAGEPFLICHT, ANWALTLICHER SACHVORTRAG UND RECHTSWEG BRAK-MITTEILUNGEN 2/2025 AUFSÄTZE 98
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