BRAK-Mitteilungen 5/2023

PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS - EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT RECHTSANWÄLTIN ANTJE JUNGK, RECHTSANWÄLTE BERTIN CHAB UND HOLGER GRAMS* * Die Autorin Jungk ist Leitende Justiziarin, der Autor Chab Leitender Justiziar bei der Allianz Versicherungs-AG, München; der Autor Grams ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Versicherungsrecht in München. In jedem Heft der BRAK-Mitteilungen kommentieren die Autoren an dieser Stelle aktuelle Entscheidungen zum anwaltlichen Haftungsrecht. HAFTUNG REICHWEITE DES DRITTSCHUTZES 1. Die Einbeziehung eines Dritten in den Schutzbereich des zwischen Rechtsberater und Mandant geschlossenen Mandatsvertrags ist nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil dem Berater im Verhältnis zum Mandanten nur eine Schutz- oder Fürsorgepflichtverletzung zur Last fällt. 2. Die Hinweis- und Warnpflicht des Rechtsberaters bei möglichem Insolvenzgrund kann Drittschutz für den Geschäftsleiter der juristischen Person oder Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit entfalten; Voraussetzung ist ein Näheverhältnis zu der nach dem Mandatsvertrag geschuldeten Hauptleistung. 3. In den Schutzbereich des Vertrags bei Verletzung der Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund kann auch ein faktischer Geschäftsleiter einbezogen sein. BGH, Urt. v. 29.6.2023 – IX ZR 56/22, NZI 2023, 781 Die vertragliche Haftung des Anwalts beschränkt sich normalerweise auf seine Mandanten als Vertragspartner. Als Interessenvertreter der Mandanten muss er deren Belange berücksichtigen, die naturgemäß häufig im Gegensatz zu den Interessen Dritter stehen. Nur ausnahmsweise können Dritte in den Schutzbereich eines Anwaltsmandats einbezogen sein. Wer in den Schutzbereich des Anwaltsvertrags einbezogen werden soll, bestimmen die Vertragsparteien. Da dies oft nicht explizit vereinbart wird, werden zur Auslegung Anhaltspunkte und Erfahrungswerte herangezogen. Maßgebliche Kriterien sind nach gefestigter Rechtsprechung des BGH, dass der Dritte mit der Hauptleistung des Rechtsanwalts bestimmungsgemäß in Berührung kommen muss und der Mandant ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Beratungsvertrags hat. Zudem muss die Einbeziehung des Dritten dem Berater bekannt oder für ihn zumindest erkennbar sein.1 1 St. Rspr., z.B. BGH, NJW 2020, 3169. Ein typischer Fall ist dabei die unzutreffende Beratung einer Gesellschaft mit der Folge einer persönlichen Haftung von Gesellschaftern oder Geschäftsführern. Im hier entschiedenen Fall wurden der Geschäftsführer einer GmbH & Co. KG sowie der vorherige Gesellschafter-Geschäftsführer („Seniorchef“) als faktischer Geschäftsführer vom Insolvenzverwalter der KG wegen verbotener Zahlungen nach Insolvenzreife in Anspruch genommen. Sie nahmen Regress beim Anwalt der KG, da dieser seine Beratungspflichten hinsichtlich einer bestehenden Insolvenzreife der KG verletzt habe. Das OLG Köln als Berufungsgericht hatte nach Beweisaufnahme keine Hauptpflicht im Rahmen des Mandats feststellen können, auf einen möglichen Insolvenzgrund und die daran anknüpfenden Handlungspflichten der organschaftlichen Vertreter der KG hinzuweisen. Somit hätte allenfalls eine Nebenpflicht bestanden, die jedoch nach Ansicht des OLG keine Grundlage für Dritthaftung sein könne. Grundsätzlich sei ein enger Anwendungsbereich des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter geboten, da ansonsten die Grenze zwischen deliktischer und vertraglicher Haftung zu verwischen drohe. Die Verletzung einer bloßen nebenvertraglichen Hinweisund Warnpflicht würde nicht zu einer Einbeziehung der organschaftlichen Vertreter in den haftungsrechtlich relevanten Schutzbereich des Vertrages führen. Das sieht der BGH anders: Die Einbeziehung Dritter in den Schutz des Anwaltsvertrags sei gerade nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil dem Berater im Verhältnis zum Mandanten nur eine Schutz- oder Fürsorgepflichtverletzung (§ 241 II BGB) zur Last fällt. Maßgeblich für die Einbeziehung seien die drei oben genannten2 2 St. Rspr., z.B. BGH, NJW 2020, 3169; BGH, NJW 2016, 3432. Kriterien. Indem das OLG die Einbeziehung in den Schutzbereich allein anhand der Qualität der von ihm unterstellten Pflichtverletzung des Rechtsanwalts geprüft und abgelehnt hat, habe es seiner Beurteilung einen davon abweichenden Maßstab zugrunde gelegt, der in der Rechtsprechung des BGH keine Grundlage finde. Unter Zugrundelegung der vom BGH aufgestellten Kriterien sei davon auszugehen, dass das erforderliche Näheverhältnis jedenfalls mit Blick auf die Insolvenzantragspflicht bestehe, die im Rahmen einer wirtschaftlichen Krise der Gesellschaft regelmäßig in Betracht zu ziehen sei.3 3 So auch schon BGH, NJW 2012, 3165. Die Erwägungen, die eine Einbeziehung des ordnungsgemäß bestellten Geschäftsleiters in den Schutzbereich des Mandatsvertrags rechtfertigen können, gälten für den faktischen Geschäftsführer entsprechend, sofern dessen Existenz für den Berater erkennbar ist. JUNGK/CHAB/GRAMS, PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS - EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 5/2023 295

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