BRAK-Mitteilungen 4/2023

* 3. Sofern im Einzelfall die Weisungsgebundenheit eines Rechtsanwalts deutlich über das sich aus Sachzwängen ergebende Maß hinausgeht, kann dies ein deutliches Zeichen sein, dass eine solche Tätigkeit als eine abhängige Beschäftigung zu qualifizieren ist. BGH, Urt. v. 8.3.2023 – 1 StR 188/22 AUS DEN GRÜNDEN: [1] Das LG hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 189 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Daneben hat es gegen den Angeklagten eine Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 200 Euro verhängt sowie die Einziehung des Wertes von Taterträgen i.H.v. 118.850,58 Euro angeordnet, „soweit nicht eine Verrechnung mit den freiwillig geleisteten Krankenversicherungs-/Pflegeversicherungsbeiträgen erfolgt“. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg erzielt. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten, zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft den Strafausspruch. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat ebenfalls Erfolg. [2] I. 1. Das LG hat im Wesentlichen Folgendes festgestellt und gewertet: [3] Der seit 1982 als niedergelassener Rechtsanwalt tätige Angeklagte beschäftigte über ein von ihm praktiziertes „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ in seiner Kanzlei „S. & Kollegen“ im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum von 2013 bis 2017 als alleiniger Kanzleiinhaber zwölf Rechtsanwälte zum Schein als selbstständige freie Mitarbeiter, die tatsächlich bei ihm abhängig beschäftigt waren. Vor Beginn ihrer Tätigkeit in der Kanzlei schloss der Angeklagte mit den Rechtsanwälten einen im Wesentlichen gleichlautenden schriftlichen Vertrag („Freier Mitarbeitervertrag“) über eine zeitlich nicht befristete Zusammenarbeit sowie – in zehn dieser Fälle – eine im Wesentlichen gleichlautende weitere schriftliche Zusatzvereinbarung. Während der Mitarbeitervertrag insb. regelte, dass der Rechtsanwalt als freier Mitarbeiter für die Kanzlei tätig war, seine Sozialabgaben selbst abführte, eigenes Personal beschäftigen und selbst werben durfte sowie berechtigt war, das vereinbarte Jahresgehalt in monatlichen Teilbeträgen abzurufen, sah die Zusatzvereinbarung namentlich vor, dass die Beschäftigung eigenen Personals und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung der Kanzlei bedurften und Werbemaßnahmen abzustimmen und zu genehmigen waren. Die vorgefertigten Vertragsentwürfe legte der Angeklagte den Rechtsanwälten zur Unterschrift vor, die sie ohne weiteres Aushandeln unterzeichneten. [4] Während ihrer Beschäftigung waren die Rechtsanwälte nur für den Angeklagten tätig, der ihnen auch die zu bearbeitenden Mandate zuwies. Sofern sie keine auswärtigen Termine wahrzunehmen hatten, erbrachten sie ihre Tätigkeit, wie vom Angeklagten erwartet und eingefordert, zu den Kanzleizeiten nahezu ausschließlich in den Kanzleiräumlichkeiten; hierfür stellte ihnen der Angeklagte, ohne sie an den Kosten zu beteiligen, neben einem eigenen Büro das geschulte kanzleiinterne Personal sowie die gesamte sonstige Infrastruktur seiner Kanzlei zur Verfügung. Das vereinbarte Jahreshonorar riefen die Rechtsanwälte regelmäßig einmal pro Monat anteilig, also in Höhe eines Zwölftels, per Rechnung ab, unabhängig von dem durch sie in dem jeweiligen Abrechnungszeitraum erwirtschafteten Umsatz. [5] Insgesamt enthielt der Angeklagte den vier zuständigen Einzugsstellen von Februar 2013 bis Dezember 2017 in 189 Fällen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung i.H.v. 118.850,58 Euro vor. [6] 2. In rechtlicher Hinsicht ist das LG davon ausgegangen, dass die Tätigkeit der zwölf näher bezeichneten Anwälte im Tatzeitraum als abhängige Beschäftigung einzustufen sei und damit der Sozialversicherungspflicht unterlegen habe. [7] Zur Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsabgaben hat es die jeweils festgestellte und an die Rechtsanwälte gezahlte monatliche Nettovergütung anhand – nicht konkret mitgeteilter – individueller Merkmale im Wege des „Abtastverfahrens“ auf eine monatliche Bruttovergütung hochgerechnet, die dem 1,35 – bis zu 2,33-fachen der Nettovergütung entsprach, und – unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenzen – die Höhe der nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge berechnet. Soweit die beschäftigten Rechtsanwälte Mitglieder im Versorgungswerk für Rechtsanwälte und im Einzelfall von der Rentenversicherungspflicht befreit waren, hat das LG Rentenversicherungsbeiträge bei der Beitragsermittlung nicht in Ansatz gebracht. Entsprechendes gilt für die Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge, soweit die hochgerechneten Bruttovergütungen die besondere Jahresarbeitsentgeltgrenze des § 6 VII SGB V überschritten. Nur in Bezug auf die Beiträge zur Arbeitsförderung hat es angenommen, dass der Angeklagte diese in allen festgestellten Fällen vorenthielt (UA S. 18 ff. und 213 f.). [8] Den so ermittelten vorenthaltenen Sozialversicherungsbeitrag mit einer Gesamthöhe von 118.850,58 Euro hat das LG seiner Strafzumessung zwar zugrunde gelegt, allerdings hat es mit Blick auf die teilweise freiwillig gesetzlich kranken- und pflegeversicherten Rechtsanwälte und die insoweit geleisteten Beiträge der „(eigentlichen strafrechtlichen) Berechnung“ eine „alternative Berechnung mit ,herausgerechneten‘ freiwilligen Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträgen an gesetzliche Krankenversicherungen“ (UA S. 228) gegenübergestellt. Hierfür hat es die vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge auf der Grundlage einer weiteren Hochrechnung unter Herausnahme der ArbeitnehSONSTIGES BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 4/2023 271

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