BRAK-Mitteilungen 4/2023

rücknehmen oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise erledigt. Ein Gesetzesentwurf der Bundesregierung101 101 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof; hierzu BRAK-Stn. Nr. 33/2023. liegt noch nicht vor. Von herausragender praktischer Bedeutung wird die Neuregelung der Videoverhandlungen an den Zivilgerichten sein, die durch das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten erfolgen soll. Zwischen der Richter- und der Anwaltschaft besteht Streit darüber, wer letztlich das Sagen darüber hat, ob ein Gerichtstermin als Videoverhandlung stattfindet. Während die Anwaltschaft die Entscheidungsfreiheit der Parteien in den Vordergrund stellt,102 102 BRAK-Stn. Nr. 5/2023. pocht die Richterschaft auf ihre Prozessleitungsbefugnis und sieht ihre Autorität und richterliche Unabhängigkeit in Gefahr.103 103 Stn. des Deutschen Richterbundes Nr. 1/23; Stn. der Neuen Richtervereinigung v. 13.1.2023, S. 2 f. Warum überlässt man es nicht einfach jeder Partei selbst zu entscheiden, wie sie an einer mündlichen Verhandlung teilnimmt?104 104 Zutreffend: Windau, ZPO-Blog v. 4.12.2022 und ders., ZPO-Blog v. 22.5.2021; ebenso zu UWG-Verfahren: Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 Rn. 23. Warum möchte man es durch Anordnung einer Videoverhandlung verhindern, dass eine Partei im Gerichtssaal erscheint? Zweck des Zivilprozesses ist primär die Feststellung, Durchsetzung und Gestaltung subjektiver Rechte.105 105 MüKoZPO/Rauscher, 6. Aufl. 2020, § 259 ZPO vor § 1 Rn. 8. Die Zivilgerichte sind für die Parteien da und es besteht kein Anlass für eine Bevormundung der Parteien.106 106 Anders, wenn eine Parteianhörung in Präsenz ausnahmsweise (hohe Anforderungen: Umkehrschluss zu KG, Beschl. v. 25.4.2022 – 2 U 69/19, NJW-RR 2022, 1003 Rn. 11) unabdingbar zur Sachverhaltsaufklärung ist – allerdings nicht, um einen Vergleich zu „erzwingen“! Jedes Bundesgesetz zur „Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik“ stößt derzeit an eine reale Grenze, nämlich die (unzulässig)107 107 Zutreffend BeckOK ZPO/von Selle, 48. Ed. 1.3.2023, § 128a ZPO Rn. 2.2. magere Ausstattung der Gerichte mit videokonferenztauglichen Gerichtssälen.108 108 Stn. der Neuen Richtervereinigung v. 13.1.2023, S. 2 und 5; Stn. des Amtsrichterverbandes v. 13.1.2023, S. 2 f. Der Regierungsentwurf soll auch die Vernehmung von Zeugen im Wege einer Videokonferenz gegen den erklärten Willen einer Partei ermöglichen. Das ist abzulehnen. Mit Spannung darf erwartet werden, welche Änderungen der Bundestag am Regierungsentwurf vornehmen wird. Noch nicht absehbar ist, wann das deutsche Schiedsverfahrensrecht modernisiert wird. Derzeit liegt hierfür nur ein Eckpunktepapier vor.109 109 Bundesministerium der Justiz, Pressemitt. v. 18.4.2023; hierzu BRAK-Stn.-Nr. 21/ 2023. Obwohl die Eingangszahlen bei den Zivilgerichten seit 2005 signifikant zurückgegangen sind,110 110 C. Meller-Hannich/Höland/Nöhre, Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben: „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“ v. 21.4.2023, 357 Nr. 13. hat sich die 94. Justizministerkonferenz im Mai 2023 für eine zeitnahe Erhöhung des Zuständigkeitsstreitwerts für die Amtsgerichte auf 8.000 Euro ausgesprochen.111 111 https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2023/Fruehjahrskonferenz_2 023/index.php/, dort TOP I.3. Die Justizministerkonferenz regt an, die Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses unter dem Gesichtspunkt der Digitalisierung zu überprüfen und weiterzuentwickeln.112 112 https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2023/Fruehjahrskonferenz_2 023/index.php/, dort TOP I.8. Und auch die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (§ 173 III ZPO) will die Justizministerkonferenz bei Nutzung eines sicheren Übermittlungswegs abschaffen; die Zustellung soll durch die automatisierte Eingangsbestätigung u.a. des beA nachgewiesen werden.113 113 https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2023/Fruehjahrskonferenz_2 023/index.php/, dort TOP I.10. Im Jahr 2023 haben bereits zwei Bund-LänderDigitalgipfel stattgefunden. Als Themen sind hier insb. zu nennen: KI-Strategie für die Justiz, Plattform für maschinelle Übersetzungen, Entwicklung und Erprobung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens, Entwicklung einer digitalen Rechtsantragstelle und Entwicklung des Videoportals der Justiz.114 114 https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemitteilungen/archiv/202 3/100.php. Es bleibt spannend. PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS – EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT RECHTSANWÄLTIN ANTJE JUNGK, RECHTSANWÄLTE BERTIN CHAB UND HOLGER GRAMS* * Die Autorin Jungk ist Leitende Justiziarin, der Autor Chab Leitender Justiziar bei der Allianz Versicherungs-AG, München; der Autor Grams ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Versicherungsrecht in München. In jedem Heft der BRAK-Mitteilungen kommentieren die Autoren an dieser Stelle aktuelle Entscheidungen zum anwaltlichen Haftungsrecht. HAFTUNG BERATUNGSPFLICHTEN VOR VERGLEICH; BEWEISLAST 1. Der Rechtsanwalt ist im Grundsatz gehalten, den Mandanten in die Lage zu versetzen, eine eigenverantwortliche und sachgerechte Entscheidung über den Abschluss eines Vergleichs zu treffen; hierzu hat JUNGK/CHAB/GRAMS, PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS – EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT BRAK-MITTEILUNGEN 4/2023 AUFSÄTZE 232

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