BRAK-Mitteilungen 4/2023

sprechenden Bestimmungen der einzelnen Landes-Datenschutzgesetze.) Gerichte sind „öffentliche Stellen“. Damit gilt z.B. auch bei Zeugenvernehmungen für jede einzelne Frage, den Umfang der Protokollierung etc., dass das Gericht nicht „nur“ den Sachverhalt aufklären, sondern dies auch möglichst datenschutzfreundlich erledigen muss. Die (für „brauchbare“, glaubwürdige Zeugenaussagen durchaus gerechtfertigte) „offene“ Fragetechnik, bei der Zeugen (anstelle von Ja/Nein-Fragen) zunächst aufgefordert werden, über einen bestimmten Sachverhalt generell zu berichten, „was ihnen noch einfällt“, gerät in heftigen Konflikt mit dem Datenschutz: Schon die Mitteilung eines Zeugen, er habe die unbeteiligten Personen X und Y „kurz danach oder kurz davor auch getroffen“, ist ja für die Klärung der Beweisfrage „streng genommen“ nicht zwingend nötig. Für eine glaubwürdige, lebensechte Zeugenaussage sind solche Kontext-Angaben anerkanntermaßen enorm wichtig. Ist die entsprechende Frage und Protokollierung erlaubt? Ja, weil sie der Wahrheitsfindung dient und ja, solange die Interessen der unbeteiligten X und Y nicht überwiegen. Betrifft die Erwähnung z.B. Patientinnen vor einem Schwangerschaftsabbruch, wird die Protokollierung der Namen nur ganz ausnahmsweise gerechtfertigt sein. b) VOLLSTÄNDIGKEIT VON URKUNDEN Eine Grenze für Löschungen oder Schwärzungen von Dokumenten wird sich prozessrechtlich dort ergeben, wo Originalurkunden verwendet werden müssen (z.B. im sog. Urkundsprozess nach §§ 592 ff. ZPO). Gleiches gilt überall dort, wo Änderungen oder Teilschwärzungen auf eine Verfälschung des Inhalts hinauslaufen könnten. Dieser letztgenannte Aspekt bietet wieder ein weites Feld für Diskussionen und Streit im Einzelfall. Das Interesse an der Verfügbarkeit der unveränderten Originaldokumente (und ggf. erneut die erleichterte Richtigkeitskontrolle anhand von Kontextinformationen) rechtfertigt hier die Verwendung und Mitbekanntgabe auch solcher personenbezogenen Daten, die ansonsten (inhaltlich) für den Prozess keine Bedeutung besitzen. c) KEINE INZIDENT-PRÜFUNG DER PROZESSCHANCEN Die DSGVO führt nicht zu einer Verengung zulässiger Prozessziele. Jede Prozesspartei darf den eigenen Verfahrenserfolg anstreben – das bedeutet datenschutzrechtlich: den Verarbeitungszweck bestimmen –, auch wenn z.B. bei „objektiver“ Betrachtung dieser Erfolg von Beginn an extrem unwahrscheinlich ist. Datenverarbeitungen werden also nicht deshalb unzulässig, weil sie einer (vermeintlich) „verlorenen“ Sache dienen und deshalb „objektiv“ entbehrlich scheinen. Mit anderen Worten: Auch bei ungünstigen Prozessaussichten ergibt sich kein datenschutzrechtliches Verbot der Nutzung personenbezogener Daten aus dem Prinzip der Datensparsamkeit.6 6 Auf diese Selbstverständlichkeit hinzuweisen, mag unnütz erscheinen. V. FAZIT Die DSGVO stellt auch im Gerichtsverfahren Althergebrachtes und Gewohntes (mit Hilfe des EuGH) in Frage und auf den Prüfstand. Absehbar und durch die Verordnung erzwungen, werden die Aspekte des Datenschutzes künftig bei den Abwägungen mit anderen Zielen (im Prozess z.B.: Wahrheitsfindung, effiziente/kostengünstige/schnelle Verfahrensführung) stärkeres Gewicht bekommen als bisher. Wichtig ist aber, dies nicht als „Paradigmenwechsel“ misszuverstehen, also anzunehmen, dass künftig Datenschutzziele stets Vorrang erhalten. Und wichtig ist auch, zu sehen und anzuerkennen, dass bei der Abwägung zwischen verschiedenen Zielen die Entscheidung im Einzelfall nicht mathematisch „ausrechenbar“ ist, also durchaus verschiedene Entscheidungen begründbar und vertretbar sein können. DIE ENTWICKLUNG DES ZIVILVERFAHRENSRECHTS RECHTSANWALT DR. MICHAEL L. ULTSCH* * Der Autor ist Rechtsanwalt in München, Mitglied des BRAK-Ausschuss ZPO/GVG und Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Aufsatz berichtet über aktuelle Probleme und Entwicklungen des nationalen und internationalen Zivilverfahrensrechts sowohl im Bereich der Rechtsprechung als auch der – aktuell sehr regen – Gesetzgebung. Er knüpft an die Berichterstattung des Autors in BRAKMitt. 2022, 193 an. I. RECHTSPRECHUNG 1. GERICHTE UND RICHTER a) KEINE GERICHTLICHE BESTIMMUNG DER ZUSTÄNDIGKEIT NACH KLAGERÜCKNAHME Eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 6 ZPO kommt nicht mehr in Betracht, wenn die Klage vollständig zurückgenommen wurde, und zwar auch dann ULTSCH, DIE ENTWICKLUNG DES ZIVILVERFAHRENSRECHTS BRAK-MITTEILUNGEN 4/2023 AUFSÄTZE 224

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