BRAK-Mitteilungen 3/2023

Das Niedersächsische FG hat die Revision zugelassen – es bleibt zu hoffen, dass der BFH zu einer pragmatischen Lösung kommen wird, zumal es sich nicht um einen Einzelfall handeln dürfte. All das ändert übrigens nichts daran, dass Steuerberater, die als Doppelbänder über ein beA verfügen, auch bereits seit dem1.1.2022 verpflichtet waren, Dokumente elektronisch einzureichen!8 8 BFH, Beschl. v. 27.4.2022 – XI B 8/22. (ju) ZU LANGER DATEINAME BEI beA-VERSENDUNG 1.a) Art 103 I GG ist verletzt, wenn ein Gericht einen ordnungsgemäß eingereichten Schriftsatz unberücksichtigt lässt. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden des Gerichts hinsichtlich der unterbliebenen Kenntnisnahme des Vorbringens an; die Gründe für den Gehörsverstoß sind nicht entscheidungserheblich. 1.b) Wenn ein im elektronischen Rechtsverkehr eingereichter Schriftsatz trotz Erfüllung der technischen Voraussetzungen dennoch vom zuständigen Gericht nicht verarbeitet werden kann, steht dies einer ordnungsgemäßen Einreichung nicht entgegen, wenn sich der Inhalt des Dokuments nachträglich einwandfrei feststellen lässt. 2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art 103 I GG besteht unabhängig von einer förmlichen Beteiligtenstellung im Ausgangsverfahren. Dieser Anspruch steht vielmehr jedem zu, demgegenüber die gerichtliche Entscheidung materiellrechtlich wirkt und der deshalb von dem Verfahren rechtlich unmittelbar betroffen wird. Dazu gehören bei einer Adoption die Kinder des Annehmenden. 3. Hier: Verletzung von Art. 103 I GG, da das AG einen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs übermitteln Schriftsatz nicht zur Kenntnis genommen hatte. Der Schriftsatz konnte wegen der Länge des Dateinamens einer Anlage nicht verarbeitet worden, obschon die damals geltenden Regelungen (§§ 2, 5 ERVV jeweils i.d.F. v. 24.11.2017; ERVB 2018) insofern keine Vorgaben enthielten. (Orientierungssätze des BVerfG) BVerfG, Kammerbeschl. v. 16.2.2023 – 1 BvR 1881/21, BRAK-Mitt. 2023, 201 (in diesem Heft) Es handelt sich hier um einen stattgebenden Kammerbeschluss, was per se schon aufhorchen lässt. Die Sache war also für das BVerfG eindeutig. Das der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegende Verfahren betraf eine Volljährigenadoption, die Beschwerdeführerin als bislang einziger Abkömmling der Annehmenden widersprach der Adoption zunächst mit Schriftsatz vom 2.6.2021 und legte dann nach Erhalt aller Prozessunterlagen noch einmal inhaltlich mit Schriftsatz vom 2.7.2021 nach. Diesem Schriftsatz beigefügt war ein Handelsregisterauszug als PDF. Der Dateiname dazu hatte eine Länge von mehr als 90 Zeichen, war bereits so durch das Registerportal selbst vergeben worden, und die Bevollmächtigten änderten daran auch vor der Einreichung per beA nichts. Durch das AG wurde dann auch eine Bestätigung über den ordnungsgemäßen Eingang generiert. Allerdings erhielt die Geschäftsstelle am 5.7.2021 durch den Servicedesk des zentralen IT-Betriebs der niedersächsischen Justiz einen Hinweis, dass der Posteingang durch den langen Dateinamen der angehängten Datei nicht weiterverarbeitet werden könne und daher auch nicht das Fachsystem erreiche. Das muss man wohl so verstehen, dass der Schriftsatz zwar ordnungsgemäß bei der Justiz zentral eingegangen war, aber von dort intern nicht der elektronischen Akte des AG zugeführt werden konnte. Daher bat man, den Absender aufzufordern, die Sendung erneut mit kürzerem Dateinamen des Anhangs zu versenden. Dieser Bitte kam das AG dann erst mit Hinweis vom 19.7.2021 nach, was deshalb bemerkenswert ist, weil der verfahrensbeendende Beschluss über die Adoption bereits am 12.7. 2021 ergangen war. Das BVerfG stellt fest, dass alle Anforderungen an die Eignung, die an das elektronische Dokument durch die einschlägigen Gesetze und Verordnungen, namentlich § 130a I und II ZPO sowie §§ 2 und 5 ERVV in den damals gültigen Fassungen gestellt wurden, eingehalten waren. Ein überlanger Dateiname hätte also nach diesen Anforderungen kein Hindernis sein dürfen. Dass die Sendung insgesamt nicht weiterverarbeitet werden konnte, stehe einer ordnungsgemäßen Einreichung nicht entgegen. Die Kammer vergleicht diesen Fall mit der bei Gericht in die falsche Akte sortierten Post und stellt klar, dass es nicht auf ein Verschulden des Gerichts im Hinblick auf die Weiterverarbeitung ankomme. Dieses hätte also unbedingt abwarten müssen, bis der Beschwerdeführer Gelegenheit hatte, den Schriftsatz noch einmal in zu verarbeitender Form einzureichen, oder aber selbst für eine andere Form der Kenntnisnahme sorgen müssen. Das BVerfG hielt die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs deshalb für „offensichtlich begründet“. Das sollte einem Gericht nicht passieren. (bc) PFLICHT DES ANWALTS ZUR PRÜFUNG VON RECHTSTATSACHEN Ein Prozessbevollmächtigter darf sich bezüglich des Zeitpunkts der Zustellung eines Widerspruchsbescheids nicht auf die Angaben seines Mandanten verlassen, sondern muss deren Richtigkeit eigenverantwortlich überprüfen. BVerwG, Urt. v. 1.3.2023 – 9 C 25/21 Ein behördlicher Widerspruchsbescheid wurde per Einschreiben mit Rückschein am 2.10.2017 in einem gemeinschaftlichen Empfangsraum mehrerer Firmen einer Mitarbeiterin einer anderen Firma übergeben und von dieser quittiert. Den Zustellumschlag fügte diese Mitarbeiterin dem Bescheid bei der internen WeiterleiJUNGK/CHAB/GRAMS, PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS – EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 3/2023 163

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