BRAK-Mitteilungen 3/2023

DIE ENTWICKLUNG DER RECHTSANWALTSVERGÜTUNG 2022/2023 RECHTSANWALT DIRK HINNE* * Der Autor ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht, für Sozialrecht und für Versicherungsrecht in Dortmund. Er ist Vorsitzender des BRAK-Ausschusses Rechtsanwaltsvergütung. In seinem jährlichen Berichtsaufsatz gibt der Autor einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen im anwaltlichen Vergütungsrecht. Er knüpft an die bisherigen Berichte von Beck-Bever an1 1 Zuletzt Beck-Bever, BRAK-Mitt. 2021, 153 sowie Hinne, BRAK-Mitt. 2022, 135. und betrachtet den Zeitraum seit Mitte 2022. Im Fokus stehen dabei die Gebühren bei Inkasso und in Massenverfahren sowie die aktuelle Rechtsprechung des EuGH, die erhebliche Unsicherheiten beim Abschluss von Stundensatzvereinbarungen mit sich bringt. Im abschließenden Ausblick erläutert der Autor, warum eine erneute Anpassung der Rechtsanwaltsvergütung dringend nötig ist. I. EINLEITUNG Der letzte Bericht stand im Zeichen der Neuregelungen durch das Kostenänderungsgesetz und des Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt. Im Berichtszeitraum von Mitte 2022 bis heute sind keine wesentlichen neuen gesetzlichen Regelungen eingeführt worden, sieht man von der Erhöhung der Freibeträge bei der Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe und der Änderung der Beratungshilfeformularverordnung ab. Der Bericht befasst sich im Folgenden daher mit den Problemen, die die Auslegung der neuen gesetzlichen Regelungen mit sich bringen und der aktuellen Rechtsprechung zum Vergütungsrecht. II. ANMERKUNG 2 ZU NR. 2300 VV-RVG Die Unsicherheiten über die Auslegung insb. der Änderungen in den Anmerkungen zu Nr. 2300 VV-RVG sind bis heute nicht geklärt.2 2 Dazu Hinne, BRAK-Mitt. 2021, 278, 279 sowie ausführl. Halm, BRAK-Mitt. 2021, 282. Wie unüberlegt die Regelungen gewesen sind, zeigt sich in der Anwendung durch die Kfz-Haftpflichtversicherer in Unfallangelegenheiten. 1. UNKLARER INKASSO-BEGRIFF Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung (bewusst oder jedenfalls grob fahrlässig) ignoriert, dass er es unterlassen hat, den Begriff des Inkasso zu definieren. Nach der Rechtsprechung des BGH3 3 BGH, Urt. v. 8.4.2020 – VIII ZR 130/19. ist es jedoch möglich, jede Geltendmachung einer Geldforderung unter den Inkassobegriff zu subsumieren. Das tun nunmehr die Haftpflichtversicherer, die nach der Geltendmachung von Unfallschäden anerkennen und lediglich eine Gebühr von 0,5 entsprechend einem einfachen Fall gem. der Anmerkung 2 zu Nr. 2300 VV-RVG erstatten. Diese Art der Anwendung der Anm. 2 in den Fällen unerlaubter Handlung hatte der Gesetzgeber bei der Regelung nicht im Sinn. Ziel des Gesetzes war es, die Übervorteilung von Verbrauchern durch unseriöse Praktiken im Inkasso zu verhindern. So sollte insb. bei unbestrittenen Kleinforderungen verhindert werden, dass sich geringwertige Forderungen im zweistelligen Bereich durch die sukzessive Beauftragung eines Subunternehmens zum Forderungseinzug, eines Inkassounternehmens und eines Rechtsanwalts am Ende vervielfachen. Vom einfachen Wortlaut her kann tatsächlich auch die Regulierung von Ansprüchen aus unerlaubter Handlung als Inkasso verstanden werden. Unter Berücksichtigung des Telos der Regelung ist aber klar, dass der Begriff der Forderung in der Anm. 2 nur als das Beitreiben von unbestrittenen vertraglichen Ansprüchen verstanden werden soll. Es bleibt zu hoffen, dass die Instanzgerichte sich über den Wortlaut hinaus auch mit dem Sinn der Regelung befassen, bevor die ober- oder höchstrichterliche Rechtsprechung in mehreren Jahren Gelegenheit hat, die Ausweitung der Auslegung des Begriffs des Inkasso sachgerecht zu begrenzen. Dazu sollte es aber nicht kommen müssen: Der Gesetzgeber ist dringend aufgerufen, sich endlich der Herausforderung zu stellen und den Begriff des Inkasso (und der Forderung in der Anm. 2 zu Nr. 2300 VV-RVG) klar zu definieren. 2. UNAUSGEWOGENE FOLGEN Aus diesem Anlass zeigt sich, wie unüberlegt, einseitig und unausgewogen die gesetzliche Regelung eingeführt worden ist und welche Folgen sie nach sich zieht. Schon das Betreiben von unbestrittenen vertraglichen Forderungen ist für die Normalanwältin oder den Normalanwalt bei Ansatz der ersten Kappungsgrenze von 0,9 (Normalfall des Inkasso) und erst recht bei der zweiten Kappungsgrenze (einfacher Fall des Inkasso) unwirtschaftlich, da Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte berufsrechtlich und vertragsrechtlich nicht einfach den Forderungsbetrag vom Mandanten übernehmen und zur Zahlung auffordern können. Vielmehr sind sie verpflichtet, die Sach- und Rechtslage (insb. in Bezug auf den Rechtsgrund und den Eintritt der Fälligkeit) zu überprüfen. Insoweit besteht eine Inkongruenz zu den gewerblichen Inkassoanbietern, die diese Verpflichtung nicht haben. Deshalb bewirkt die Regelung eben nicht eine VerbesseAUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 3/2023 153

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