BRAK-Mitteilungen 1/2023

DIE RECHTSPRECHUNG ZUR RECHTSSCHUTZVERSICHERUNG IM JAHR 2022 RECHTSANWALT DR. CHRISTIAN VÖLKER* * Der Autor ist Fachanwalt für Versicherungsrecht in Hamburg und Mitglied im Ausschuss Versicherungsrecht der BRAK sowie des Komitees Versicherung des CCBE. Der Beitrag schließt an den Bericht des Autors in den BRAK-Mitt. 2022, 20 ff. an. Er gibt einen umfassenden Überblick über die seit dem Jahreswechsel 2021/22 veröffentlichte Rechtsprechung zur Rechtsschutzversicherung und ordnet diese ein.1 1 Soweit nachfolgend ohne nähere Konkretisierung auf ARB verwiesen wird, sind die ARB 2010 des GDV in Bezug genommen, an die die konkreten Gesellschafts-ARB noch immer überwiegend angelehnt sind. Rein quantitativ sind vordergründig auffallend viele2 2 Nämlich 22 von insgesamt 31. der im Berichtszeitraum veröffentlichten Entscheidungen – zu rechtlich allerdings durchaus unterschiedlichen Fragen – im Kontext der Diesel-Fälle ergangen. Tatsächlich ist dieser Befund allerdings so verwunderlich wiederum nicht, stellt doch der „Diesel-Skandal“ das größte Schadenereignis in der Geschichte der deutschen Rechtsschutzversicherer dar.3 3 Vgl. die Pressemitt. des GDV v. 23.6.2022, wonach rund 407.000 Versicherungsnehmer Deckung beanspruchten und sich der Schadenaufwand für Anwalts-, Gerichts- und Gutachterkosten per dato auf rund 1,4 Mrd. Euro belaufe. Die „Massenfälle“ führen dabei sowohl auf Seiten der Rechtsschutzversicherer als auch auf Seiten der Versicherungsnehmer und ihrer Anwältinnen und Anwälte, gelegentlich auch der Gerichte, zu nicht wenigen Handhabungsproblemen. I. RECHTSSCHUTZFALL 1. EINTRITT DES VERSICHERUNGSFALLS Der Versicherungsnehmer einer Rechtsschutzversicherung wehrte sich im verwaltungsrechtlichen Widerspruchsverfahren und sodann mittels Klage gegen einen von der Finanzverwaltung im Gefolge seines Grundstückserwerbs offenbar mangels Zahlung von Grundsteuer gem. § 191 AO erlassenen Duldungsbescheid. Für die ihm insoweit erwachsenen Kosten der Rechtswahrnehmung begehrte er von seinem Versicherer Freistellung unter der versicherten Leistungsart Verwaltungsrechtsschutz. Dieser berief sich auf Nachvertraglichkeit. Wie im Vertragsrechtsschutz löst auch dort der dem Versicherungsnehmer oder einem anderen vorgeworfene Verstoß gegen Rechtspflichten den Versicherungsfall aus. Der Versicherungsnehmer meinte, es sei insoweit auf den Eigentumserwerb oder aber die behördliche Anhörung vor Erlass des Duldungsbescheids abzustellen. Das OLG Hamm4 4 Vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 21.1.2022 – 20 U 352/21, beck-online Rn. 12 ff. Ebenso bereits für den Steuerrechtsschutz OLG Nürnberg, Beschl. v. 27.11.2020 – 8 U 2967/20. verwarf dies in einem Hinweisbeschluss gem. § 522 II ZPO und stellte insoweit völlig zutreffend auf den Erlass des vom Versicherungsnehmer mit seinen kostenauslösenden Maßnahmen bekämpften Duldungsbescheids ab. 2. GESETZLICHE „WARTEOBLIEGENHEIT“ UND DAHINGEHENDES WEISUNGSRECHT? a) ABWARTEN EINES PARALLELVERFAHRENS Das AG Singen5 5 Vgl. AG Singen, Urt. v. 29.6.2022 – 11 C 20/22, beck-online Rn. 23 ff.; zust. Horacek/Holl, VuR 2022, 416 (418). hat zutreffend erkannt, dass ein Rechtsschutzversicherer nicht deshalb gem. § 82 III VVG ganz oder teilweise leistungsfrei sein kann, weil der Versicherungsnehmer vor Veranlassung von kostenauslösenden Maßnahmen nicht den rechtskräftigen Abschluss eines beim BGH anhängigen Parallelverfahrens abgewartet hat. Eine dahingehende Obliegenheit folge aus der in § 82 I VVG normierten allgemeinen Schadenminderungsobliegenheit nicht.6 6 Auch nicht aus etwa § 17 lit. c. bb. ARB 2010 entsprechenden, sich in den AVB findenden Obliegenheiten, die der BGH bekanntlich als intransparent und damit unwirksam verworfen hat, vgl. Urt. v. 14.8.2019 – IV ZR 279/17 und dazu Völker, BRAK-Mitt. 2020, 18 (23). Die Antwort auf die Frage, ob eine dahingehende Weisung des Versicherers gem. § 82 II VVG für den Versicherungsnehmer beachtlich gewesen wäre, konnte das Gericht offen lassen, weil eine solche erstens gar nicht erteilt worden ist und zweitens alle etwa einzuhaltenden Obliegenheiten aufgrund einer zuvor bereits wegen mangelnder Erfolgsaussichten ausgesprochenen Deckungsablehnung entfallen wären. Das Gericht rief zudem in Erinnerung, dass der Rechtsanwalt nicht Repräsentant des Versicherungsnehmers und damit per se nicht Adressat gesetzlicher oder vertraglicher Obliegenheiten sei.7 7 Vgl. BGH, Urt. v. 14.8.2019 – IV ZR 279/17. b) WEISUNG, MIT KLAGEERHEBUNG ZUZUWARTEN Dass grundsätzlich eine rechtlich auf § 82 II VVG gestützte Weisung, der Versicherungsnehmer möge bei Deckungsbestätigung „dem Grunde nach“ mit der Erhebung einer Klage noch zuzuwarten, möglich ist und auch keine Deckungsablehnung darstellt, hat das OLG Koblenz8 8 Vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 7.12.2021 – 10 U 1085/21, beck-online Rn. 2 ff. entschieden. Der Versicherer hatte sich mit seiner dahingehenden Äußerung rechtmäßig verhalten, weil ein konkreter Schaden in der Deckungsanfrage nicht behauptet worden war und zudem unklar sei, ob und in welcher Höhe ein solcher jemals eintreten würde. Auch im Fall des AG Singen wäre eine etwaige Weisung wegen der unmittelbar bevorstehenden höchstrichterlichen Entscheidung mit der gerichtlichen Geltendmachung zuzuwarten für den VersicheBRAK-MITTEILUNGEN 1/2023 AUFSÄTZE 18

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