BRAK-Magazin Ausgabe 04/2025

AUGUST 2025 · AUSGABE 4/2025 ANWÄLTINNEN UND ANWÄLTE SCHÜTZEN DIE NEUE EUROPARATS-KONVENTION ZUM SCHUTZ DES ANWALTSBERUFS Türkei: Die BRAK auf internationaler Prozessbeobachtungsmission Geldwäsche: Gibt die Anwaltschaft zu wenige Verdachtsmeldungen ab? Rechtsstaat: Wie verwundbar ist die Justiz? Foto: Astrid Gamisch

Zöller Zivilprozessordnung Kommentar Das hohe Tempo der Digitalisierung hält die Ziviljustiz in Atem. Einsatz von Videokonferenztechnik, Nutzung von KI, eAkte: Der fundamentale Wandel der ZPO wirft viele Fragen auf. Gut, dass der Zöller alle Veränderungen frühzeitig und auf höchstem Niveau kommentiert. Die Neuauflage berücksichtigt alle neuen Regelungen, darunter die Gesetze zur weiteren Digitalisierung der Justiz und zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim BGH. Die Folgen der Pflicht zum elektronischen Rechtsverkehr ab dem 01.01.2026 sind bereits umfassend eingearbeitet. Mit dem Zöller ist automatisch die Online-Version des Werks verknüpft. Sie erhalten Zugriff auf zitierte Entscheidungen, Nebenvorschriften, Drucksachen und Arbeitshilfen. Außerdem profitieren Sie von den Online-Aktualisierungen zwischen den Auflagen. So bleiben Sie stets auf Höhe der Zeit. Leseprobe und Bestellung: otto-schmidt.de/zpo Zöller Zivilprozessordnung Kommentar Begründet von Dr. Richard Zöller. Bearbeitet von Prof. Dr. Christoph Althammer; VorsRiKG Christian Feskorn; Prof. Dr. Reinhard Greger; Prof. Dr. Wolfgang Hau; RiAG a.D. Kurt Herget; PräsBayVerfGH und PräsOLG Dr. Hans-Joachim Heßler; PräsOLG a.D. Clemens Lückemann; MinRat Dr. Hendrik Schultzky; VizePräsLG Dr. Mark Seibel; VorsRiOLG Prof. Dr. Gregor Vollkommer. 36. neu bearbeitete Auflage 2026, ca. 3.300 Seiten, Lexikonformat, gbd., Buch + Datenbank, Freischaltcode im Buch, 189 €. Erscheint im Oktober 2025. ISBN 978-3-504-47027-2 Das Werk online otto-schmidt.de/akr juris.de/zivilr Volle Konzentration. Inklusive Zöller online Neuauflage mit Zöller online im Oktober!

IMPRESSUM Bundesrechtsanwaltskammer – Körperschaft des öffentlichen Rechts, Littenstraße 9, 10179 Berlin Redaktion: Rechtsanwältin Dr. Tanja Nitschke, Mag. rer. publ. (verantwortlich) Verlag: Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln (ausführliches Impressum unter www.brak.de/zeitschriften) EDITORIAL FERIENENDE = AUSBILDUNGSBEGINN Rechtsanwältin Dr. Tanja Nitschke, Mag. rer. publ., BRAK, Berlin Es ist mitten im Sommer, doch schon bald sind in allen Bundesländern die Schulferien zu Ende und damit startet auch das neue Berufsschuljahr. Für viele Kanzleien heißt das, dass sie neue Auszubildende in ihre Teams integrieren – wenn sie zu den Glücklichen zählen, die Auszubildende gefunden haben. Denn das gestaltet sich zunehmend schwieriger. Seit mehreren Jahren nimmt die Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge ab. Nach den Erhebungen des Bundesinstituts für Berufsbildung waren es zu Beginn des Ausbildungsjahrs 2024 (Stichtag 30.9.) etwa 3 % weniger als im Vorjahr. Die Mehrzahl der Rechtsanwaltskammern verzeichnete rückläufige Zahlen bei den angehenden Rechtanwaltsfachangestellten (ReFa), nur in zehn Kammern gab es leichte Zuwächse; auch die Zahl der angehenden Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten (ReNo) stieg minimal. Immerhin milderte sich der deutliche prozentuale Rückgang der beiden Vorjahre (etwa –5 % bzw. –11 % in 2023 bzw. 2022) etwas ab. Ob das bereits erste Früchte der verschiedenen Kampagnen von Rechtsanwaltskammern und ReFa-Verbänden sind, die für den Ausbildungsberuf werben, lässt sich noch nicht definitiv sagen. Denn die Zahlen schwankten in den vorangegangenen Zahlen häufiger um ein paar Prozentpunkte, ohne dass sich eindeutige Einflussfaktoren dafür ausmachen ließen, weshalb die Veränderung in einem Jahr mehr oder weniger groß ausfiel. Es gab nur eine Konstante: Die Zahlen waren immer rückläufig. Dieser Rückgang im Ausbildungsbereich bildet die Basis dafür, dass sich der Beruf der ReFa bzw. ReNo immer mehr zum Mangelberuf entwickelt hat; davon zeugen auch aktuelle Umfragen zu offenen Stellen unter Freiberuflern. Verstärkend kommt hinzu, dass ausgelernte ReFas und ReNos nicht selten in die Justiz oder in Unternehmen abwandern – und die hohen Abbrecherquoten, die dazu führen, dass noch weniger junge ReFas und ReNos nachkommen. In manchen Kammerbezirken brach in den letzten Jahren sogar über die Hälfte eines Berufsschuljahrgangs die Ausbildung ab, weil sich entweder der Beruf ReFa für immer mehr Auszubildende als doch nicht passend herausstellte, die Ausbildung schlecht oder gar nicht stattfand, und/ oder Ausbildende und Arbeitsklima problematisch waren. Über die Ursachen im Detail wurde in den letzten zwei Jahren viel diskutiert, sie waren auch Thema von Veranstaltungen und Veröffentlichungen von BRAK und Kammern. Für das nun startende Ausbildungsjahr liegen noch keine Zahlen vor. Neue Untersuchungen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, aktuelle Berichte darüber, dass Unternehmen insgesamt weniger Ausbildungsplätze anbieten, und der anhaltende Trend bei Schülerinnen und Schülern, dauerhaft ohne berufsqualifizierenden Abschluss erwerbstätig zu sein, lassen befürchten, dass die Entwicklung keine positive sein wird. Und doch hat sich in den vergangenen zwei Jahren einiges bewegt, das hoffen lässt. In einem zunehmend von Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt sind Mitarbeiterbindung und die eigene Attraktivität als Arbeitgeber für viele Kanzleien stärker in den Fokus gerückt. Elemente sind u.a. eine konkurrenzfähige(re) Vergütung – für die auch die Kammern durch mehrfach erhöhte Vergütungsempfehlungen sorgen – und ein wertschätzender Umgang; über diese Stellschrauben wurde schon vieles geschrieben. Erkennbar gewachsen ist bei vielen Kanzleien auch das Bewusstsein, dass Auszubildende nicht nur billige Hilfskräfte sind, sondern eine qualitativ gute Ausbildung brauchen – und ein offenes Ohr für ihre Ideen und ihre Digitalkompentenz. Das ist auch der Schlüssel, um sie langfristig als zufriedene Mitarbeitende an die Kanzlei zu binden. Das große Interesse an den von einigen Kammern angebotenen Ausbildungssiegeln und die bereits jetzt vielerorts zurückgegangenen Abbrecherquoten geben Grund zu einem gewissen Optimismus. Doch auch im jetzt startenden Ausbildungsjahr gibt es noch genug Potenzial für Verbesserungen – und die sollte die Anwaltschaft angehen. Foto: Oliver Hurst

BRAK MAGAZIN 4/2025 4 VERANSTALTUNG ZUR NEUEN KONVENTION ZUM SCHUTZ DER ANWALTSCHAFT Ass. jur. Frederic Boog, LL.M., und Ass. jur. Sarah Pratscher, BRAK, Brüssel Die BRAK hat, gemeinsam mit dem Bar Council of England and Wales, der tschechischen Anwaltskammer und dem Deutschen Anwaltverein am 23. Juni 2025 eine Veranstaltung in Brüssel zur neuen Konvention des Europarats zum Schutz des Rechtsanwaltsberufs organisiert. Dieses erste völkerrechtlich verbindliche Abkommen zum Schutz der Anwaltschaft ist auch Frucht der jahrelangen Arbeit der BRAK. EIN FEIERLICHER ANLASS Anlass der feierlichen Veranstaltung mit dem Titel „Protecting Lawyers, Upholding the Rule of Law – The New Council of Europe Convention“ in der Repräsentanz der Stadt Prag in Brüssel war die Annahme des Konventionstexts am 12.3.2025 in Luxemburg durch das Ministerkomitee des Europarats. Der Annahme war ein jahrelanger politischer Prozess zur Frage, ob ein solches verbindliches Rechtsinstrument geschaffen werden soll, und eine mehrjährige Erarbeitungsphase vorangegangen. Die BRAK hatte sich, gemeinsam mit ihren europäischen Partnern, intensiv eingebracht. Am 13. und 14.5.2025 wurde die Konvention im Rahmen der 134. Sitzung des Ministerkomitees des Europarats von den ersten 17 Staaten unterzeichnet, Bulgarien folgte als 18. Staat am 4.7.2025. Die englischsprachige Veranstaltung sollte u.a. auf die neue Konvention in Brüssel aufmerksam machen und zu ihrer raschen Unterzeichnung und Ratifizierung auch durch weitere Staaten auffordern. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat bisher nicht unterzeichnet. DIE ANWALTSCHAFT UNTER DRUCK BRAK-Vizepräsident Dr. Christian Lemke unterstrich in seiner Begrüßungsrede vor etwa 70 Gästen die Bedeutung der Konvention für einen besseren Schutz der Anwaltschaft als essenziellen Teil des demokratischen Rechtsstaats. Er nahm dabei u.a. auf aktuelle Entwicklungen Bezug, in denen Anwältinnen und Anwälte samt ihrer Anwaltsorganisationen von staatlicher Seite bedroht würden. So sei zu beobachten, wie der US-Präsident u.a. durch den Entzug von Sicherheitsfreigaben, Zugangsberechtigungen und öffentlicher Mittel zahlreiche Anwältinnen und Anwälte, Anwaltskanzleien sowie die American Bar Association massiv unter Druck setze und in ihrer Tätigkeit einschränke. Auch in der Türkei sei die Anwaltschaft staatlichen Angriffen ausgesetzt, wie sich an der willkürlichen Absetzung des Istanbuler Kammervorstands und der Einleitung von Strafverfahren gegen seine Mitglieder zeige. DER SCHUTZ JENER, DIE ANDERE SCHÜTZEN Auch Bjørn Berge, Vize-Generalsekretär des Europarats, ging in einer kurzen Videonachricht an die Teilnehmenden der Veranstaltung auf die fundamental wichtige Rolle und die vielerorts schwierige Situation der Anwaltschaft ein. Es seien Anwältinnen und Anwälte, die – oft wenig sichtbar und teils unter schwierigen Bedingungen – mit ihrer alltäglichen Arbeit dem Recht Geltung verschafften, Menschen eine Stimme gäben und damit Gerechtigkeit erst möglich machten: „There can be no justice without lawyers. And without justice, how can there be a democracy?“ Es sei daher an der Zeit jene zu schützen und zu verteidigen, die andere schützten und zu ihrem Recht verhülfen – und oft gerade deshalb Ziel von Angriffen würden. EIN MEILENSTEIN FÜR DEN SCHUTZ DER RECHTSSTAATLICHKEIT In Ihrem Impulsvortrag lenkte nun Dr. Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europarlaments, den Fokus zunächst auf die besondere Rolle der Anwaltschaft im Rechtsstaat. Sie habe ihr ganzes Leben dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit gewidmet. Auch aus ihrer früheren Tätigkeit als Anwältin wisse sie, dass der Rechtsstaat nicht „self-executing“ sei, sondern von Menschen durchgesetzt und geschützt werden müsse. Dabei machte sie auf die Bedrohungslage, in welcher sich viele Anwältinnen und Anwälte befänden, aufmerksam. Unter anderem unter Bezugnahme auf einen Bericht des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Diego García-Sayán, sowie auf eine aktuelle, im Rahmen des Rats der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) auch unter Beteiligung der BRAK durchgeführte Studie zu Angriffen auf Anwältinnen und Anwälte arbeitete sie die Situation der Anwaltschaft heraus. Eine große Zahl der in der Studie befragten Anwältinnen und Anwälte habe innerhalb der letzten zwei bis drei Jahre Angriffe mit teils erheblichen Auswirkungen erlebt. Es sei alarmierend, dass vor diesem Hintergrund zahlreiche befragte Anwältinnen und Anwälte darüber nachdächten, den Beruf zu verlassen. Umso mehr sei es zu begrüßen, dass die Konvention die staatliche Verpflichtung zu konkreten Schutzmaßnahmen vorsehe. Denn gerade

BRAK MAGAZIN 4/2025 5 Anwältinnen und Anwälte würden durch ihr Eintreten für Gerechtigkeit und die Aufdeckung von Fehlverhalten schnell zur Zielscheibe. Es sei sehr wichtig, dass auch auf EU-Ebene bereits bestehende Instrumente nun durch einen anwaltsspezifischen rechtlichen Rahmen mit konkreten Schutzmechanismen ergänzt werden. Insofern sei die Konvention ein Meilenstein zur Absicherung der Anwaltschaft und damit ein wesentlicher Beitrag zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit insgesamt. DIE KONVENTION AUS UNTERSCHIEDLICHEN PERSPEKTIVEN In zwei nachfolgenden Diskussionspanels kamen zunächst Staatenvertreter zu Wort. So legten Eral Knight, Head of Private International Law Negotiations and International Relations aus dem britischen Justizminsterium, Petr Válek, tschechischer Botschafter beim Europarat, sowie Dr. Christoph Henrichs, Referatsleiter im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, die Sicht Ihrer Heimatstaaten auf die Unterzeichnung und Ratifizierung der Konvention dar. Sie berichteten zugleich über die Erarbeitung und den Verhandlungen zur Konvention, bei denen sie jeweils tragende Rollen gespielt hatten. Im zweiten Panel gewährten hochrangige Vertreter der Anwaltschaft aus England, Tschechien, den Niederlanden und Deutschland Einblicke in aktuelle praktische Herausforderungen in ihren jeweiligen Staaten. In der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass sowohl Angriffe auf die Anwaltschaft von privater als auch von staatlicher Seite die Erforderlichkeit der neuen Konvention unterstrichen. In den an die Panels anschließenden Fragerunden diskutierten die Gäste mit den Podiumsteilnehmern. Der Austausch wurde sodann im Garten des Anwesens bei einem Empfang fortgesetzt, in dem der sommerliche Abend ausklang. DIE ZUKUNFT DER KONVENTION Es bleibt abzuwarten, wann weitere Staaten die Konvention unterzeichnen und wann die ersten Ratifikationsurkunden beim Europarat hinterlegt werden. Etwa drei Monate, nachdem die ersten acht Staaten – darunter mindestens sechs Mitgliedstaaten des Europarats – die Konvention ratifiziert haben, tritt das Abkommen in Kraft. Experten rechnen damit, dass dies gegen Ende 2026 der Fall sein könnte. Dabei steht für EU-Mitgliedstaaten auch noch die Kompetenzabgrenzung zur EU im Raum. Die EU kann auch selbst der Konvention beitreten, wobei die politischen Prozesse auf dem Weg dahin erhebliche Zeit in Anspruch nehmen könnten. Sobald die Konvention in Kraft getreten ist, werden die im Abkommen vorgesehenen Gremien – namentlich ein Komitee der Vertragsparteien und eine Expertengruppe zur Überwachung der Einhaltung der Konvention – sukzessive konstituiert werden. Zugleich wird dann auch der Beitritt von Staaten möglich, die nicht Mitglied des Europarats sind und auch nicht schon in die Erarbeitung der Konvention eingebunden waren. Die BRAK steht mit einigen internationalen Partnern, die bereits jetzt Interesse bekundet haben, im Austausch. Die BRAK wird sich – gemeinsam mit ihren europäischen Partnerorganisationen und dem Europarat –auch in Zukunft mit Nachdruck dafür einsetzen, dass die Konvention von Deutschland, aber auch anderen Staaten in Europa und der Welt unterzeichnet, ratifiziert und ordnungsgemäß um- und durchgesetzt wird. Zugleich wird sie weiterhin daran arbeiten, dass die Konvention auch bei Rechtsanwendern und politischen Entscheidungsträgern bekannter wird, um den Schutz der Anwaltschaft als Grundpfeiler des Rechtsstaats bestmöglich zu gewährleisten. Foto: Astrid Gamisch Europaparlaments-Vizepräsidentin Dr. Katharina Barley bei ihrem Impulsvortrag

BRAK MAGAZIN 4/2025 6 ANWALTSCHAFT IN GEFAHR – PROZESSBEOBACHTUNG IN ISTANBUL Rechtsanwältin Astrid Gamisch, LL.M., BRAK, Brüssel* Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, die anschließende Protestwelle und das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen selbige sorgten auch in Deutschland für Schlagzeilen. Hierzulande wohl wenig beachtet: das im Zuge dieser Ereignisse stattfindende Vorgehen des türkischen Staates gegen die dortige Anwaltschaft, insbesondere in den großen und „modernen“ Städten wie Izmir und Istanbul. In letztere reisten BRAK Vize-Präsident Dr. Christian Lemke sowie Repräsentantinnen und Repräsentanten zahlreicher anderer Anwaltsorganisationen Ende Mai, um den dort vor einem Strafgericht stehenden gesamten Kammervorstand einschließlich seines Präsidenten sowie in einem weiteren Verfahren ein kurdisches Vorstandsmitglied zu unterstützen. Vorgeworfen werden ihnen Straftaten mit Terrorismusbezug. DIE SITUATION DER ANWALTSCHAFT IN DER TÜRKEI Auf der Landkarte der Anwaltschaften unter staatlichem Druck ist die Türkei allerdings kein Neuling. Seit über einem Jahrzehnt nimmt die BRAK bereits an dortigen Prozessbeobachtungsmissionen teil. Wiederholt kam es zu Festnahmen von und Strafverfahren gegen türkische Anwältinnen und Anwälte, ein prominentes Beispiel ist der Fall der kurdisch-türkischen Menschenrechtsanwältin Ebru Timtik, die 2020 im Hungerstreik verstarb. Im selben Jahr war die Unabhängigkeit der Anwaltschaft durch ein Gesetz zur Neuordnung des Kammerwesens gefährdet, die großen und mächtigen Kammern sollten zerschlagen werden. Derzeit sollen in 77 von 81 türkischen Provinzen Anwältinnen und Anwälte verhaftet oder verurteilt worden sein. Im ganzen Land laufen Verfahren gegen sie, teils in ihrer Funktion als Kammervertreter oder als Mitglieder von Anwaltsorganisationen wie der Progressive Lawyers Association (ÇHD) und der Vereinigung der Anwälte für Freiheit (ÖHD). 553 Anwältinnen und Anwälte wurden zu insgesamt 3.380 Jahren im Gefängnis verurteilt; mehr als 1.700 werden strafrechtlich verfolgt und mehr als 700 befinden sich in Untersuchungshaft. VERFAHREN GEGEN DEN GESAMTEN ISTANBULER KAMMERVORSTAND Die Istanbuler Rechtsanwaltskammer ist mit ihren über 65.000 Mitgliedern wohl eine der größten Anwaltskammern der Welt. Vorgeworfen werden ihrem Vorstand samt seinem Präsidenten, dem ehemaligen Abgeordneten Prof. İbrahim Kaboğlu, „terroristische Propaganda“ und „öffentliche Verbreitung irreführender Informationen“. Die Kammer hatte im Dezember 2024 zu einer unparteiischen und wirksamen Untersuchung der Umstände im Zusammenhang mit dem Tod von zwei kurdischen Journalisten durch türkische Drohnen in Syrien aufgerufen, sowie zur Freilassung von Anwältinnen und Anwälten, die wegen der Teilnahme an einer Demonstration gegen diese Vorfälle inhaftiert worden waren. Dem Strafverfahren ging ein separates, auf den gleichen Tatsachen beruhendes Zivilverfahren voraus, das zur Amtsenthebung des gesamten Vorstands am 21.3.2025 führte. Dagegen ist BeruFoto: Astrid Gamisch Die internationale Prozessbeobachtungs-Gruppe vor dem Istanbuler Justizpalast * Die Autorin war ebenfalls für die BRAK als Prozessbeobachterin in Istanbul vor Ort.

BRAK MAGAZIN 4/2025 7 Sie haben die Wahl: Teilnahme vor Ort oder online im Live-Stream! BUCHUNG AUF WWW.ANWALTSINSTITUT.DE Köln /Live-Stream (Nr.  ) Fr. ‚. –  .„ Uhr, Sa. ‚. – †.„ Uhr ·  Zeitstunden – §  FAO · Kostenbeitrag: “ ,– € (USt.-befreit) . Jahresarbeitstagung Arbeitsrecht . bis . November  Köln/Live-Stream Aktuelle Entwicklungen im Massenentlassungsrecht und Best Practice Dr. Ulrich Sittard, Rechtsanwalt Die Gleichheitskontrolle von Tarifverträgen – Nachtarbeit, Mehrarbeit & Co. Prof. Dr. Clemens Höpfner, Universitätsprofessor Annahmeverzug als Strategie im Kündigungsschutzprozess Prof. Dr. Michael Fuhlrott, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht Mitarbeiterbeteiligungen, langfristige Vergütungselemente (LTI) und Aktienoptionen – arbeitsrechtliche Fallstricke Martina Hidalgo, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht Zwischen Restrukturierung und Fachkräftemangel – wie geht es weiter? Dr. Susanna Stöckert, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht Verflixtes Verfahrensrecht – Aktuelle und klassische Probleme beider Antragstellung im Urteils- und Beschlussverfahren? Dr. Anno Hamacher, Richter am Bundesarbeitsgericht KI und Chatbots – Chancen und Risiken im Arbeitsrecht Prof. Dr. Christian Arnold, LL.M., Rechtsanwalt Leitung: Dr. Thomas Rothballer, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht Grußwort: Inken Gallner, Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Fortbildungsplus zur „“. Jahresarbeitstagung Arbeitsrecht Aktuelles Arbeitsrecht spezial  £. November †† · Köln /Live-Stream (Nr.  „) Do. „. –  .„ Uhr · Zeitstunden – §  FAO · Kostenbeitrag: „ ,– € (USt.-befreit) Paketpreis: † ,– € (USt.-befreit) für Jahresarbeitstagung und Fortbildungsplus Chefarztrecht: Dr. Eva Maria Rütz, LL.M., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Fachanwältin für Medizinrecht Aktuelle Rechtsprechung im Arbeitsrecht: Werner Ziemann, Vors. Richter am Landesarbeitsgericht a.D. Fallstricke bei der Geltendmachung und Möglichkeiten der Abwehr von Vergütungsansprüchen: Wilhelm Mestwerdt, Präsident des Landesarbeitsgerichts § ¤ FAO ¤ Zeitstunden

BRAK MAGAZIN 4/2025 8 fung eingelegt. Am 23.2.2025 fand deswegen eine außerordentliche Kammerversammlung statt, zu der auch die internationale Anwaltschaft zur Solidaritätsbekundung eingeladen wurde. In einem gemeinsamen Statement äußerten sich vier UNSonderberichterstatter, darunter die Sonderberichterstatterin für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, kritisch zu den beiden Verfahren. PROZESSTAG IN SILIVRI Am 28.5.2025 fand die erste Anhörung statt. Für die Beobachterinnen und Beobachter ging es früh am Morgen mit Reisebussen in die ca. 100 km von Istanbul entfernte Gefängnisstadt Silivri, die als Anstalt für politische Häftlinge bekannt und Europas größter Hochsicherheitstrakt ist. Die Ortswahl wurde vielfach als Versuch kritisiert, der Öffentlichkeit die Teilnahme zu erschweren, auch die Verteidigung sei dadurch beeinträchtigt. Der für die Anhörung gewählte Hauptgerichtssaal ähnelt einer Turnhalle. Er bietet Platz für 200 Angeklagte und deren Verteidiger, die elf angeklagten Vorstandsmitglieder nahmen im vorderen Teil Platz. Vor der „Zuschauertribüne“ am hinteren Ende des Saals und im gesamten Saal verteilt saßen Polizisten. Der Prozess begann mit Unruhe. Offenbar sollten nicht alle vorgesehenen Anwältinnen und Anwälte auftreten dürfen, es scheiterte an Formalia, welche sich offenbar häufig und nicht vorhersehbar ändern. Für die Beobachtenden übersetzten und erklärten türkische Anwältinnen und Anwälte das Geschehen über Messengerdienste. Alle elf Angeklagten kamen in der Anhörung zu Wort. Kaboğlu entschied sich gegen eine klassische Verteidigung und für eine rechtsbasierte Erklärung, in der er zahlreiche materiellrechtliche sowie Verfahrensfehler der Anklage aufzeigte. Er wies zunächst auf die Rolle der Anwaltskammer als öffentliche Institution zum Schutz von Rechtsstaat und Grundrechten hin, der sie durch das Statement nachgekommen sei. Durch die Kriminalisierung der Stellungnahme sei diese Rolle verletzt worden. Zudem habe die Genehmigung des Justizministeriums gefehlt – ein Verfahrensfehler. Diese ist aufgrund von berufsrechtlichen Regelungen bei Ermittlungen gegen Anwälte wegen Vorgängen im Zusammenhang mit ihrer Berufsausübung erforderlich. Außerdem seien Ermittlungsinhalte an die Presse weitergegeben worden. Materiellrechtlich wurde das Fehlen der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale geltend gemacht: Sollte es sich bei den seit Jahren journalistisch arbeitenden und in der Presse übereinstimmend als Journalisten bezeichneten Getöteten in Wahrheit, wie von staatlicher Seite behauptet, um Terroristen handeln, hätte die Kammer keine Kenntnis davon haben können, schließlich sei man kein Geheimdienst. Fırat Epözdemir wies zudem auf das zeitliche Zusammenfallen beider Prozesse hin, welches ihm die Vorbereitung auf seine Anhörung am nächsten Tag erschwere. Plötzlich war es dann vorbei – das Verfahren sollte am nächsten Tag fortgesetzt werden. Bei den internationalen Beobachtern herrschte Verwirrung darüber, ob man sich nun in zwei Gruppen aufteilen und an beiden Verfahren teilnehmen oder wie geplant geschlossen zu Epözdemirs Anhörung in Istanbul gehen solle. Beide Anhörungen wären aufgrund der geografischen Distanz kaum machbar gewesen. Die Entscheidung fiel für Letzteres. ANHÖRUNG DES INHAFTIERTEN Am nächsten Tag fanden sich die Beobachter also gemeinsam mit zahlreichen türkischen Kolleginnen und Kollegen für das Verfahren gegen das separat angeklagte kurdische Vorstandsmitglied Fırat Epözdemir im möglicherweise größten Gericht Europas, dem Istanbuler Çağlayan-Justizpalast, ein. Er war auf seiner Rückreise von einem Treffen von Vertretern der Anwaltschaft mit dem Europarat am 23.1.2025 verhaftet worden. Vorgeworfen wird ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Propaganda für selbige aufgrund von Vorgängen aus dem Jahr 2015. Anders als die anderen befand Epözdemir sich am Prozesstag seit beinahe fünf Monaten in Silivri in Untersuchungshaft. Noch vor dem Start des eigentlichen Prozesses kamen aus dem dortigen Gerichtssaal auch guten Nachrichten: Das Verfahren gegen den gesamten Vorstand wurde auf September verschoben, niemand wurde verhaftet. Die Beobachter mussten wieder warten, der vom Gericht ausgewählte Saal war viel zu klein für die bis zu 80 zusätzlichen internationalen Repräsentanten. Innerhalb relativ kurzer Zeit konnten aber zwei andere Gerichtssäle zur Verfügung gestellt werden, in denen das Verfahren über Videoleinwände verfolgt werden konnte, wieder unter Zuhilfenahme der Messenger-Übersetzung. Den Anschuldigungen gegen Epözdemir liegt u.a. eine sich aus seiner Kommunalkandidatur im Jahr 2014 ergebende angebliche Mitgliedschaft in der Partei HDK (Demokratischer Kongress der Völker) zugrunde. Diese soll auf Anweisung der PKK gegründet worden sein. Ferner war Epözdemir zur Koordinierung einer Reise der Anwaltskammer nach Cizre „passives“ Mitglied einer WhatsApp-Gruppe, was seine Verbindung zu illegalen Organisationen untermauern soll. Und es wurde ein Foto vorgelegt, auf dem er ein traditionelles Kopftuch in den kurdischen Farben trägt. Epözdemir wandte dagegen u.a. ein, dass er keine Rolle in der HDK innehabe, die Organisation sei schon nicht illegal, außerdem habe er damals ledig-

BRAK MAGAZIN 4/2025 9 lich für den Gemeindevorsitz kandidiert. Die Dienstreise nach Cizre sei im Rahmen der Berufsausübung erfolgt, ferner habe es dazu bereits ein Verfahren gegeben, welches rechtskräftig eingestellt worden war. Neue Beweise gebe es nicht. Schließlich könne das Foto keine strafrechtliche Anklage begründen, da die Tat jedenfalls verjährt wäre. Am Ende des Prozesstages wurde Epözdemir zur großen Überraschung und vor allem Erleichterung aller unter richterlicher Aufsicht aus der Haft entlassen, ein Ausreiseverbot wurde verhängt. Die Prozessbeobachter konnten ihn am späten Abend in den Räumlichkeiten der Istanbuler Kammer in Empfang nehmen. Insgesamt nahmen etwa 80 Beobachterinnen und Beobachter aus der Anwaltschaft an den beiden Tagen teil. Vertreten waren die Anwaltschaften u.a. aus Frankreich, Belgien, der Schweiz, den Niederlanden, dem Kongo, Bulgarien und Italien, sowie Organisationen wie der CCBE, die Union Internationale des Avocats, Lawyers4Lawyers und Advocats sans Frontières. Ebenfalls im Gerichtssaal anwesend waren einige konsularische Gesandte. VERANSTALTUNG ÜBER NEUE EUROPARATSKONVENTION Am 27.5.2025, dem Vortag des ersten Prozesses, führte die Istanbuler Kammer gemeinsam mit der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei eine Konferenz über die neue Europaratskonvention zum Schutz des Anwaltsberufs durch. Zahlreiche der Prozessbeobachter traten als Sprecher auf. Betont wurde von Gastgebern wie Gästen das gemeinsame Bekenntnis zu europäischen und internationalen Grundrechten und Standards, insbesondere zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und zur EMRK, sowie das Engagement der Türkei bei der Erarbeitung der neuen Europaratskonvention und die Hoffnung der türkischen Kolleginnen und Kollegen auf die Unterzeichnung durch ihr Land. Dr. Lemke saß für die BRAK auf dem Panel und appellierte mit Blick auf die deutsche Geschichte an die Pflicht eines jeden Anwalts und einer jeden Anwältin, solche Normen in ihrer täglichen Arbeit lebendig zu machen. Wenige Tage zuvor fand in Istanbul zudem eine internationale familienrechtliche Tagung statt, an der für die BRAK die Familienrechtsexpertin Dr. Kerstin Niethammer-Jürgens teilnahm. Auch in diesem Rahmen wurde die Solidarität mit dem Istanbuler Kammervorstand bekundet. PERSPEKTIVE Es stellt sich die Frage, was man als europäische Anwaltsverbände noch tun könnte, um die türkischen Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen. Im September werden die Verfahren gegen den Kammervorstand sowie gegen Epözdemir fortgesetzt, die deutsche Anwaltschaft wird wieder als Beobachterin teilnehmen und dadurch Flagge zeigen. Eine weitere Möglichkeit liegt in der Unterstützung als Amicus Curiae im Verfahren. Der französische nationale Anwaltsverband CNB ist diesen Schritt bereits gegangen. Der CCBE wird sich in den straf- und zivilrechtlichen Verfahren gegen den Vorstand als Amicus Curiae einbringen. Die BRAK hat beschlossen, sich dem anzuschließen. Außerdem muss unbedingt Öffentlichkeit auch in Deutschland hergestellt werden, in Bezug auf das Vorgehen gegen die Anwaltschaft. Den europäischen Anwaltskammern kommt hier eine besondere Rolle zu und dem dient auch dieser Bericht. Am 19.6.2025, nach Rückkehr der Beobachter, ist erneut Mehmet Pehlivan, Anwalt des inhaftierten Istanbuler Bürgermeisters İmamoğlu, wegen Vorwürfen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit verhaftet worden. Die BRAK hat sich ebenso wie der CCBE in einer Pressemitteilung klar dazu verhalten. Der türkische Staat, hochgeschätzter Partner der EU in Wirtschafts- wie in außenpolitischen Angelegenheiten und einst Verbündeter in Sachen Lawyers‘ Convention und europäische Grundrechte darf nicht verloren gehen. Foyer des Silivri-Gefängnisses: Kammerpräsident Prof. Kaboğlu (8. v.l.) im Kreise der Prozessbeobachter, u.a. mit BRAK-Vizepräsident Dr. Lemke (6. v.r.) Foto: Astrid Gamisch

SAVE THE DATE 8. Konferenz Freitag | 5.12.2025 weitere Informationen in Kürze unter www.anwaltskonferenz.de Anmeldung unter www.brak.de/anwaltskonferenz2025 Braucht die Anwaltschaft ein neues Vergütungssystem? Die Konferenz Ideeder Konferenz ist es, aktuelle berufsrechtliche und berufspolitische Diskussionen aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu begleiten. Sie öffnet den Dialog zwischen den zum Berufsrecht Forschenden und all denjenigen, die täglich mit Anwaltsrecht in Berührung kommen, Anwältinnen und Anwälten ebenso wie Rechtsanwaltskammern. Herausforderungen für Anwaltschaft und Zugang zum Recht durch • Schieflagen bei der gesetzlichen Vergütung • hinkende Kostenerstattung • Unmet Legal Needs • Honorar bei KI-Nutzung • SLAPP: Kosten als Drohpotenzial

BRAK MAGAZIN 4/2025 11 ZWISCHEN STOLPERSTEINEN UND ZIVILCOURAGE Unterwegs auf den Spuren von Hans Litten Baran Adli, Berlin* Als Hans-Litten-Schüler wollten wir mehr über den Menschen wissen, dessen Namen unsere Schule trägt. Am 12.6.2025 machte sich unsere Klasse auf den Weg ins Berliner Kloster- und Scheunenviertel – begleitet von der App Actionbound. Ein vom Haus Kreisau entwickelter digitaler Guide vermittelte nicht nur historisches Wissen, sondern stellte gezielte Reflexionsfragen zu Gerechtigkeit, Mut und Zivilcourage. So wurden wir Teil einer aktiven Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart. Ziel der Exkursion war die Blindenwerkstatt Otto Weidt, doch im Mittelpunkt stand Hans Litten – ein Anwalt, der mutig gegen das NS-Regime kämpfte. Wir folgten seinen Spuren: vorbei an Gedenkorten, Stolpersteinen und historischen Gebäuden. MOLKENMARKT Der Rundgang begann am Molkenmarkt, wo Hans Litten in der Kanzlei Barbasch arbeitete und den Kriegsgegner Ernst Friedrich verteidigte. Bei der nahegelegenen Bundesrechtsanwaltskammer hinterließ eine große Metalltafel mit den Namen der Rechtsanwälte, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden, Eindruck. Im Gespräch mit der Geschäftsführerin Kristina Trierweiler erfuhren wir, dass weltweit noch immer Jurist:innen unter großem Risiko arbeiten. Diese mutigen Anwält:innen werden – so Frau Trierweiler – gebraucht, um für Recht und Menschlichkeit zu kämpfen. SCHEUNENVIERTEL Von hier aus ging es weiter ins Scheunenviertel. In der Zolastraße 1 entdeckten wir die Stolpersteine von Hans Litten, seinem Freund Max Fürst und seit dem 2.7.2024 auch von Margot Fürst, die trotz ihrer wichtigen Rolle als Sekretärin und Mitstreiterin Littens lange Zeit im Schatten der Männer stand. Dass unsere Schule an der Verlegung dieses Stolpersteins mitgewirkt hat, verlieh dieser Station eine besondere Nähe. Geschichte wurde greifbar – nicht nur durch die Steine im Gehweg, sondern durch die uns Schülern zukommende Verantwortung, Erinnerung lebendig zu halten. Die App Actionbound forderte immer wieder dazu auf, sich in die Situation zu Beginn der 1930er Jahre hineinzuversetzen. In Gesprächen mit Passant:innen fragten wir: „Würden Sie vor Gericht eine Falschaussage machen, wenn Ihre Familie bedroht wird?“ Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Eine Frau sagte klar: „Ich würde nicht lügen, weil Lügen zum Problem beiträgt.“ Ein anderer Passant meinte nach kurzem Zögern: „Dazu gibt es keine richtige Antwort.“ BLINDENWERKSTATT WEIDT Am Ziel angekommen – in der Blindenwerkstatt Otto Weidt – wurde aus Geschichte ein Raum der Erfahrung. Das enge Versteck, in dem die für Weidt arbeitende jüdische Familie Horn Schutz suchte, machte Zivilcourage auf beklemmende Weise spürbar. Mut zeigte sich hier nicht in großen Gesten, sondern im Verborgenen: als stiller Schutz, der jegliches Risiko in Kauf nimmt, um die Menschlichkeit vor der Auslöschung zu bewahren. ZWISCHEN DEN STATIONEN Der Actionbound führte uns strukturiert durch die Stationen. Doch das Entscheidende geschah dazwischen: in den Momenten, in denen klar wurde, dass Hans Litten kein fernes Vorbild ist, sondern auch nur ein junger Anwalt ohne viel Erfahrung, aber mit umso mehr Mut. Sein juristischer Widerstand gegen das NS-Regime war gefährlich und dennoch notwendig. Er zahlte einen hohen Preis, aber gerade darin liegt seine Größe. Ich empfehle diese Tour jeder Schulklasse an der Hans-Litten-Schule. Sie macht Geschichte erlebbar, stellt unbequeme Fragen – und führt dazu, Antworten nicht nur in Büchern zu suchen, sondern auch in sich selbst. Sie zeigt: Zivilcourage ist keine große Bühne, sondern eine Haltung im Alltag. Für die Zukunft wünsche ich mir mehr solcher Projekte. Denn Erinnerung allein reicht nicht. Wer den Namen Hans Litten am Schuleingang nur liest, aber nicht begreift, warum er handelte, verpasst das Wesentliche: Dass Demokratie kein Zustand ist, sondern ein täglicher Prozess. Und dass Mut oft dort beginnt, wo das Schweigen bequem wäre – aber nicht richtig. * Baran Adli ist Schüler der Klasse E44 der Berliner Hans-Litten-Schule. Die Schülerinnen und Schüler der Litten-Schule zu Besuch bei der BRAK

BRAK MAGAZIN 4/2025 12 DIE BRAK IN AFRIKA Deutsche Anwaltschaft bestens vernetzt Rechtsanwalt Riad Khalil Hassanain, BRAK, Berlin Vom 26. bis 27.5.2025 kamen in Daressalam, Tansania, Vertreterinnen und Vertreter afrikanischer Anwaltskammern, der BRAK sowie internationaler Organisationen zu einer zweitägigen Fachkonferenz zusammen. Die Veranstaltung mit dem Titel „Stärkung des Zugangs zu Rechtsinformationen und Förderung der Zusammenarbeit zwischen Anwaltskammern“ wurde inhaltlich von der BRAK und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) konzipiert. Sie knüpfte direkt an das Internationale Anwaltsforum im April 2025 an, bei dem zahlreiche Präsidentinnen und Präsidenten afrikanischer Anwaltskammern erste Kontakte zur BRAK geknüpft und Interesse an einer Zusammenarbeit kundgetan hatten. Möglich wurde das Treffen durch die enge Kooperation mit der Tanganyika Law Society (TLS) und die umfassende Unterstützung durch die GIZ, die die Kosten der Veranstaltung übernahm. Dadurch konnte die Veranstaltung nahezu ohne finanzielle Belastung für die deutsche Anwaltschaft umgesetzt werden. Die BRAK wurde durch Vizepräsidentin Sabine Fuhrmann sowie Riad Khalil Hassanain vertreten. Sabine Fuhrmann stellte die Grundprinzipien des deutschen Berufsrechts und der anwaltlichen Selbstverwaltung vor und moderierte eine Session zu Governance, Nachhaltigkeit und Relevanz von Anwaltskammern. Riad Khalil Hassanain präsentierte die internationale Arbeit der BRAK, das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) sowie aktuelle Entwicklungen im Bereich der Regulierung künstlicher Intelligenz im juristischen Kontext. ANWALTSCHAFTEN IM WANDEL Die Veranstaltung fand in einer Zeit statt, in der die Anwaltschaften vieler Länder Subsahara-Afrikas an institutioneller Bedeutung gewinnen. Anwaltskammern übernehmen dort nicht nur disziplinarische Aufgaben, sondern entwickeln sich zu aktiven Akteuren in rechtspolitischen Fragen und beim Zugang zum Recht. Damit geht ein wachsendes Interesse an internationaler Zusammenarbeit einher – insbesondere mit der deutschen Anwaltschaft, deren Selbstverwaltungsstruktur vielfach als Vorbild gilt. Seit 2018 baut die BRAK ihre internationale Arbeit in der Region mit dem Schwerpunkt Nordafrika aus. Mit dieser Veranstaltung wurde der Austausch nun auch auf Subsahara-Afrika ausgeweitet. ANNÄHERUNGEN Der erste Tag stand im Zeichen der Annäherung: Anwaltskammern aus Tansania, Ghana, Elfenbeinküste, Senegal, Uganda, Sambia und Deutschland präsentierten ihre Berufsrechtsordnungen und Selbstverwaltungsstrukturen. In einer moderierten Diskussion wurden Herausforderungen und Erfolgsfaktoren nachhaltiger Kammerführung thematisiert – etwa Mitgliederbindung, Serviceausbau und das Verhältnis von Aufsicht und Interessenvertretung. Den Abschluss bildete ein Austausch über Kooperationsmöglichkeiten mit Beiträgen der Pan African Lawyers Union (PALU), der East African Law Society (EALS) und der BRAK. Der zweite Tag fokussierte auf den digitalen Zugang zum Recht. Eine tansanische Anwältin schilderte, wie junge Juristinnen und Juristen von Plattformen wie TanzLII profitieren, insbesondere in strukturschwachen Regionen. Es folgten Einblicke in digitale Systeme aus Deutschland (u.a. beA), Kanada (CanLII) sowie Modelle afrikanischer Länder wie Ghana und Elfenbeinküste. In einem „runden Tisch“ diskutierten die Teilnehmenden, wie sich diese Ansätze auf ihre Länder übertragen lassen. MEILENSTEIN FÜR DEN INTERNATIONALEN DIALOG Deutlich wurde: Die Anwaltschaft in SubsaharaAfrika befindet sich im Wandel – mit wachsender struktureller Stärke, politischer Relevanz und Reformwillen. Die BRAK wird als erfahrene Partnerin wahrgenommen, die nicht nur Expertise einbringt, sondern auch bereit ist zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Die Konferenz markierte einen wichtigen Meilenstein für den internationalen Dialog der Anwaltschaft – mit dem Ziel, den Zugang zum Recht durch moderne, digital aufgestellte und vernetzte Anwaltsorganisationen weltweit zu verbessern. Foto: luma_art/shutterstock.com

BRAK MAGAZIN 4/2025 13 MOTIVIEREN STATT KONTROLLIEREN So gelingt Führung in der Kanzlei Rechtsanwältin Dr. Anja Schäfer, Karriere-Coach für Jurist:innen, Berlin Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kanzlei wollen nicht nur wissen, dass sie ihre Aufgaben korrekt erledigt haben – sie erwarten auch eine Rückmeldung von Ihnen als Führungskraft. Dies gilt für anwaltliches wie nicht-anwaltliches Personal gleichermaßen. Gerade bei wichtigen, umfangreichen, komplizierten oder besonders sorgfältig zu erledigenden Aufgaben wird Feedback erwartet. Auch bei Routinearbeiten sollten Sie in angemessenen Abständen Rückmeldung zur Arbeitsqualität geben – ohne jeden Schritt einzeln zu kontrollieren. „NICHT GESCHIMPFT“ GILT KEINESFALLS ALS LOB Was häufig unterschätzt wird: Motivation muss nicht nur aufgebaut, sondern auch aufrechterhalten werden. Ohne regelmäßiges Feedback entsteht schnell das Gefühl mangelnder Wertschätzung. Ein einmal jährlich stattfindendes Gespräch reicht dafür nicht aus. Fehlendes Feedback kann gravierende Folgen haben: Aufgaben werden als weniger relevant wahrgenommen, Engagement und Sorgfalt sinken. Die verlorene Motivation wiederherzustellen, kostet mehr Energie, als sie kontinuierlich aufrechtzuerhalten – meist genügen schon gelegentliche positive Rückmeldungen von Ihnen als Führungskraft. FEEDBACK, DAS WIRKT: BEGRÜNDETES LOB UND KONSTRUKTIVE KRITIK Wurde eine Aufgabe überdurchschnittlich oder besonders zügig erledigt? Dann sollten Sie das anerkennen – aber ehrlich. Es kommt nicht darauf an, was Sie eigentlich meinen. Vielmehr muss Ihr Feedback so formuliert sein, dass es beim Gegenüber auch als Lob ankommt. Aussagen wie „Das ist gar nicht so schlecht“ wirken eher demotivierend. Sagen Sie stattdessen konkret und positiv: „Das haben Sie gut gemacht!“ Auch Kritik sollte konstruktiv sein. Weisen Sie auf Mängel so hin, dass daraus eine Lernerfahrung werden kann. Negatives Feedback darf keine Abrechnung sein, sondern sollte als Hilfestellung wahrgenommen werden. KONTROLLE IST NICHT GLEICH KONTROLLE: DREI TIPPS FÜR MOTIVIERENDE MITARBEITENDENKONTROLLE Sie wollen durch Kontrolle Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verärgern, sondern motivieren? Mit diesen drei Tipps gelingt es. Tipp 1: Kontrolle mit Ziel Kontrolle darf kein Selbstzweck sein. Sie sollte stets dem Kanzleierfolg dienen – sei es durch das Einhalten von Fristen (Sachziele) oder durch teamorientiertes Verhalten (Humanziele). Tipp 2: Kontrolle mit Ankündigung Unangekündigte Überprüfungen wirken verunsichernd und erhöhen das Fehlerpotenzial. Vereinbarte, begründete Kontrollen hingegen schaffen Vertrauen und ermöglichen Selbstkontrolle. Ist eine vorherige Ankündigung (z.B. bei Kontakt mit Mandantinnen und Mandanten) nicht möglich, sollten zumindest Art und Ziel der Kontrolle für die betroffene Person transparent und nachvollziehbar sein. Tipp 3: Kontrolle mit Maß Vermeiden Sie Prinzipienreiterei. Wenn Sie eigenverantwortlich denkende und proaktiv handelnde Mitarbeitende möchten, dann beschränken Sie die Kontrolle auf das Wesentliche. Nur so fördern Sie im Interesse einer am Gesamtergebnis orientierten Arbeitsweise Ergebnisorientierung und Selbstverantwortung. FAZIT: ERFOLGREICHES FÜHREN HEISST MOTIVIEREN – DURCH FEEDBACK UND VERTRAUEN Ihr Ziel als Führungskraft sollte eine konstruktive Fehlerkultur sein. Kontrolle dient nicht der Fehlersuche, sondern der Bestätigung guter Leistungen. Zeigen Sie Wertschätzung für überdurchschnittliche Ergebnisse und bewerten Sie Fehler sachlich – nach ihren tatsächlichen Folgen. So schaffen Sie als Anwältin oder Anwalt eine motivierende Atmosphäre in Ihrer Kanzlei, in der sich Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht kontrolliert fühlen, sondern anerkannt. Foto: Art of Ngu/shutterstock.com

14 GIBT DIE ANWALTSCHAFT IMMER NOCH ZU WENIG VERDACHTSMELDUNGEN AB? FIU Jahresbericht für 2024 veröffentlicht Rechtsanwalt Christian Bluhm, Referent für Geldwäscheprävention, BRAK, Berlin Verdachtsmeldungen i.S.d. § 43 GwG bei der Financial Intelligence Unit (FIU) – der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen (§ 27 GwG) – sollen ein wirksames Instrument sein, um Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu bekämpfen. Die FIU selbst ist keine Strafverfolgungsbehörde, soll aber aus der Vielzahl der bei ihr eingehenden Meldungen die relevanten Fälle analysieren und herausfiltern (vgl. § 28 GwG). Die Praxis zeigt, dass dies nicht einfach ist. FIU JAHRESBERICHT FÜR 2024 Am 10.6.2025 veröffentlichte die FIU ihren Jahresbericht 2024. Demnach nahm das Gesamtmeldeaufkommen gegenüber dem Vorjahr deutlich ab (265.708, Vorjahr: 322.590). Dies führt die FIU zurück auf eine verbesserte risikobasierte Bearbeitung und die höhere Qualität der eingegangenen Verdachtsmeldungen sowie auf ihr Eckpunktepapier zu Sachverhalten, die grundsätzlich keine Meldepflicht auslösen (sog. Negativtypologien gem. § 43 V 2 GwG; für bei der FIU registrierte Verpflichtete zu finden bei go.AML). Rund 96 % der eingegangenen Verdachtsmeldungen stammen aus dem Finanzsektor. Aus dem Nicht-Finanzsektor, der auch die rechtsberatenden Berufe umfasst, kommen gerade einmal ca. 4 %. Durch Anwältinnen und Anwälte sollen nach Information der FIU 2024 ca. 200 Verdachtsmeldungen abgegeben worden sein, nachdem diese schon im Vorjahr erheblich zugenommen hatten (2023: 160, 2022: 92, 2021: 21). Die meisten sollen Bezug zu Immobilientransaktionen haben. Nach der Verordnung zu den nach dem GwG meldepflichtigen Sachverhalten im Immobilienbereich (GwGMeldV-­ Immobilien) sind bei den in ihren §§ 3-6 beschriebenen Sachverhalten nämlich auch unabhängig von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht Meldungen an die FIU zu erstatten. MELDET DIE ANWALTSCHAFT ZU WENIG? Die vermeintlich geringen Meldezahlen aus der Anwaltschaft wurden schon oft von internationalen Gremien für die Geldwäschebekämpfung wie FATF oder OECD oder auch von der Europäischen Kommission kritisiert. So auch bei der letzten Prüfung Deutschlands durch die Financial Action Task Force (FATF) im Jahr 2021: Der Prüfungsbericht der FATF verdeutlicht die Erwartungshaltung gegenüber der Anwaltschaft und warum das Berufsgeheimnis vielen ein Dorn im Auge ist. Dort heißt es u.a. (auf S. 140/141), Anwälte und andere rechtsberatende Berufe nähmen an, ihre berufliche Verschwiegenheitspflicht hindere die Verdachtsmeldepflicht. Die Rechtsberufe legten die Verschwiegenheitspflicht weit aus: Viele meinten, sie müssten nur eine Meldung einreichen, wenn sie konkrete Kenntnis davon hätten, für Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung missbraucht zu werden. Die GwGMeldV-Immobilien habe zu mehr Meldungen von Notaren geführt, unter Anwälten herrsche aber „Verwirrung“ über den Geltungsbereich der Verordnung. Festzustellen ist zunächst, dass sich das Verdachtsmeldeaufkommen in der Anwaltschaft seit der letzten FATF-Deutschlandprüfung im Jahr 2021 verzehnfacht hat. Aber ist es trotzdem immer noch (zu) niedrig? Sind 1.000 % von sehr wenig immer noch (zu) wenig? Gemessen an der Größe der Anwaltschaft (138.715 niedergelassene Rechtsanwältinnen und -anwälte, 27.789 Syndikusrechtsanwältinnen und -anwälte) und an der Zahl der Verdachtsmeldungen aus Notariaten (ca. 7.500 jährlich) wird dies den KritiFoto: Stokkete/shutterstock.com

BRAK MAGAZIN 4/2025 15 kern voraussichtlich immer noch nicht genug sein. Auch der Einwand, dass nach den statistischen Erhebungen der Rechtsanwaltskammern nur ca. 35 % der Anwaltschaft (= ca. 58.300) Verpflichtete gem. § 2 I Nr. 10 GwG sind, dürfte nicht weiterhelfen. Denn damit gäbe immer noch nur eine/r von 300 anwaltlichen Verpflichteten eine Meldung an die FIU ab. Wirken also die geltenden GwG-Pflichten schon derart abschreckend, dass es schlicht wenige zu meldende Verdachtsfälle gibt? Kritische Stimmen könnten entgegnen, dass immer noch vielen Anwältinnen und Anwälten ausreichendes Risikoverständnis für die Gefahren der Geldwäsche fehlt, weshalb sie potenzielle Verdachtsfälle gar nicht erst erkennen. Und die Anzahl der Meldungen durch den Finanzsektor könnte zu dem Schluss führen, dass es womöglich doch mehr Geldwäschefälle in Deutschland gibt. Dagegen spricht aber die geringe Zahl der im Ergebnis sanktionierten Fälle (1.625). AUSNAHME FÜR DIE ANWALTSCHAFT KLAR GEREGELT Was also erwartet die FATF von der Anwaltschaft? Schon ihre Wortwahl, dass bei Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten oft eine „Verwirrung“ in Bezug auf ihr Berufsgeheimnis bestehe, die in der Praxis die Abgabe von Verdachtsmeldungen „behindert“, sorgt für Unverständnis. Denn dass Berufsgeheimnisträger eine Ausnahme von der Meldepflicht erhalten sollen und nur unter ganz engen Voraussetzungen melden dürfen, hat sie doch selbst in ihrer Handlungsempfehlung Nr. 23 und in ihrem Leitfaden „Guidance for risk based approach for legal professionals“ aus 2019 vorgegeben. Hieraus folgend hatte auch der europäische Gesetzgeber schon in Art. 34 II der vierten Geldwäscherichtlinie (EU) 2015/849 klare Vorgaben in Bezug auf die Meldepflicht für die Anwaltschaft gemacht. Diese finden sich entsprechend in § 43 II GwG wieder und werden sich auch mit der ab 10.7.2027 unmittelbar geltenden Geldwäscheverordnung (EU) 1624/2024 (Gw-VO) nicht (wesentlich) ändern: Gem. Art. 70 II Gw-VO werden Rechtsanwälte von den in Art. 69 I Gw-VO festgelegten Anforderungen an die Meldepflicht ausgenommen, soweit – dies Informationen betrifft, die sie von einem Mandanten erhalten oder in Bezug auf diesen einholen, wenn sie für ihn die Rechtslage beurteilen, oder – ihn in oder im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren verteidigen oder vertreten. Hierzuzählt auch eine Beratung über das Betreiben oder Vermeiden solcher Verfahren. Unerheblich ist, ob diese Informationen vor, bei oder nach einem solchen Verfahren empfangen oder eingeholt werden. Die Ausnahme von der Meldepflicht soll nach Art. 70 II 2 Gw-VO nicht gelten, wenn Rechtanwältinnen und Rechtsanwälte – an Geldwäsche, diesbezüglichen Vortaten oder Terrorismusfinanzierung beteiligt sind (lit. a), – Rechtsberatung für die Zwecke der Geldwäsche, ihrer Vortaten oder der Terrorismusfinanzierung erteilen (lit. b), – wissen, dass der Mandant die Rechtsberatung für die Zwecke der Geldwäsche, ihrer Vortaten oder der Terrorismusfinanzierung in Anspruch nimmt (lit. c). Ob Wissen oder Zweck vorliegen, könne aus objektiven, tatsächlichen Umständen abgeleitet werden (s. hierzu auch Erwägungsgrund Nr. 12 der Gw-VO). Außerdem kann Deutschland für bestimmte Arten von Transaktionen gem. Art. 70 III Gw-VO explizit Ausnahmen beschließen. FAZIT Dass von der Anwaltschaft erwartet wird, unter Durchbrechung ihrer gesetzlich normierten Verschwiegenheitspflicht immer mehr melden zu müssen, kann nicht der richtige Weg sein. Schon die FIU hat erkannt, dass nicht Ziel sein sollte, immer mehr Verdachtsmeldungen abzugeben, sondern dass die einzelnen Meldungen qualitativ werthaltiger werden müssen. Viele Verdachtsmeldungen führen gerade nicht zu höheren Aufklärungsquoten und zu vermehrten strafrechtlichen Sanktionen, wie der letzte FIU-Jahresbericht zeigt. 96 % aller von der FIU an die Staatsanwaltschaft abgegebenen Verfahren seien eingestellt worden und in gerade einmal 1.625 von 262.708 gemeldeten Fällen Sanktionen verhängt worden. Die Praxis braucht klare Vorgaben zu einzelnen Konstellationen, wann ein Verdachtsfall vorliegt und wann er (nicht) gemeldet werden muss. Die FIU hat mit ihrem Eckpunktepapier zur Bestimmung von Negativtypologien den Anfang gemacht. Weiteres ist bis Juli 2026 mit Umsetzung des Geldwäschepakets und näheren Bestimmungen durch die europäische Aufsichtsbehörde AMLA (Anti Money Laundering Authority) und die Europäische Kommission in Gestalt von Leitfäden und technischen Durchführungsstandards zur Meldepflicht gem. Art. 69 III-V GW-VO zu erwarten. Weitere Informationen Prüfung/Feststellung Ihrer Verpflichteteneigenschaft sowie praktische Tipps und Hinweise zu der Erfüllung Ihrer GwG-Pflichten finden Sie hier.

BRAK MAGAZIN 4/2025 16 WAS WÄRE, WENN? Verfassungsblog untersucht Vulnerabilität der Justiz Was wäre, wenn…? Mit dieser Frage befasst sich seit einigen Jahren der vom Juristen Maximilian Steinbeis gegründete Verfassungsblog, ein akademischer Open-Access-Blog, der sich mit verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Themen beschäftigt. Begonnen hatte es mit dem „Thüringen-Projekt“, in dem wissenschaftlich über gut eineinhalb Jahre am Beispiel Thüringens untersucht wurde, welche Spielräume eine autoritärpopulistische Partei hätte, um ihre Macht zum Schaden der Demokratie einzusetzen. Das Forschungsprojekt endete im Dezember 2024. Einige Monate zuvor hatten die Thüringerinnen und Thüringer die AfD zur stärksten Fraktion im Landtag gewählt und das Projekt mit erschreckender Aktualität versehen. Seitdem kann man zuschauen, wie sich die Vorhersagen aus dem Thüringen-Projekt verwirklichen: Seit Monaten blockiert die Fraktion den Richterwahlausschuss und vor wenigen Wochen wurde ein von der AfD benannter Rechtsanwalt auch mit Stimmen der Regierungsfraktionen zum stellvertretenden Richter des Landesverfassungsgerichts gewählt. Der Verfassungsblog hat nun ein neues Projekt gestartet: das „Justiz-Projekt“. Fragen dazu an den Münchener Rechtsanwalt Lennart Laude, zugleich wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Justiz-Projekt. Warum hat der Verfassungsblog jetzt das neue Projekt gestartet? Worin besteht der Unterschied zum Thüringen-Projekt? Wir haben beim Thüringen-Projekt sehr umfassend die Frage gestellt: Was kann passieren, wenn autoritäre Populisten staatliche Machtmittel in die Hand bekommen? Wir meinen damit Parteien, die das Ziel haben, einen autoritären Staat zu errichten. Sie nutzen dabei Populismus als ihre Methode, das Ziel zu erreichen. Dabei haben wir uns auf Thüringen konzentriert, weil es hier seit Jahren besonders instabile politische Verhältnisse gab und sich abzeichnete, dass sich diese mit den Landtagswahlen 2024 verschärfen werden. Wir haben dabei festgestellt, dass es Bereiche gibt, in denen es leichter als in anderen möglich ist, bisher politisch oder rechtlich anerkannte Grenzen zu überschreiten und Einfluss auf Institutionen zu nehmen. Und dazu gehört aus unserer Sicht vor allem auch die Justiz. Dies zeigt sich insbesondere durch die massive Kampagne in Thüringen, die dortige Justiz und das Landesverfassungsgericht bereits im Vorfeld und weiter im Anschluss an die konstituierende Sitzung des Landtags im September 2024 öffentlich zu delegitimieren. Deshalb haben wir unsere Erfahrungen aus dem Thüringen-Projekt zum Anlass genommen, uns diesen sensiblen Bereich – diesmal nicht nur für Thüringen, sondern für ganz Deutschland – genauer anzuschauen und zu untersuchen: Was gibt es hier für Einfallstore, was gibt es für Verwundbarkeiten? Wenn es sich anbietet, wollen wir Vorschläge entwickeln, wie man die Resilienz der Justiz stärken kann. Schaut man sich einmal international um: In vielen Ländern ist ja die Justiz unter Druck. Ganz genau. Die USA sind dafür natürlich ein eindrückliches und medienpräsentes Beispiel. Und hier in Europa sind ja nach wie vor die Beispiele Ungarn und Polen sehr präsent. Aber da hört es ja nicht auf, in Israel, Mexiko, Indien, Taiwan, da passiert ganz viel abseits der breiten Öffentlichkeit. Unsere Erfahrungen zeigen, dass autoritäre Populisten in verschiedenen Staaten ähnliche Strategien verfolgen. Deshalb schauen wir uns auch den „Werkzeugkasten“ von autoritären Populisten in anderen Ländern an, uns ist dieser Blick über den nationalen Tellerrand besonders wichtig. Wir können von solchen Erfahrungen nur lernen. Wie genau gehen Sie denn jetzt an das Projekt heran? Wir untersuchen insbesondere die Gerichtsorganisation und den Personalbereich. Hier gibt es viele Möglichkeiten, direkt auf die Justiz Einfluss zu nehmen: Beispielsweise kann aus einem Justizministerium versucht werden, Zuständigkeiten zwischen Gerichten zu verschieben oder Spruchkörper zu verändern. Es ist denkbar, dass mittels gewisser Hebel versucht wird, ein bestimmtes Verfahren nicht nur einem bestimmten Gericht, sondern sogar einem bestimmten Richter zuzuweisen. Auch über die Finanzierung der Gerichte – bzw. deren Kürzung – kann Einfluss genommen werden; ein solches „Defunding“ war in anderen Staaten zu beobachten. Wir wollen uns hier genau anschauen, wie das funktioniert und ob es tatsächlich systemische Schwachstellen gibt.

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