BRAK MAGAZIN 4/2025 6 ANWALTSCHAFT IN GEFAHR – PROZESSBEOBACHTUNG IN ISTANBUL Rechtsanwältin Astrid Gamisch, LL.M., BRAK, Brüssel* Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, die anschließende Protestwelle und das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen selbige sorgten auch in Deutschland für Schlagzeilen. Hierzulande wohl wenig beachtet: das im Zuge dieser Ereignisse stattfindende Vorgehen des türkischen Staates gegen die dortige Anwaltschaft, insbesondere in den großen und „modernen“ Städten wie Izmir und Istanbul. In letztere reisten BRAK Vize-Präsident Dr. Christian Lemke sowie Repräsentantinnen und Repräsentanten zahlreicher anderer Anwaltsorganisationen Ende Mai, um den dort vor einem Strafgericht stehenden gesamten Kammervorstand einschließlich seines Präsidenten sowie in einem weiteren Verfahren ein kurdisches Vorstandsmitglied zu unterstützen. Vorgeworfen werden ihnen Straftaten mit Terrorismusbezug. DIE SITUATION DER ANWALTSCHAFT IN DER TÜRKEI Auf der Landkarte der Anwaltschaften unter staatlichem Druck ist die Türkei allerdings kein Neuling. Seit über einem Jahrzehnt nimmt die BRAK bereits an dortigen Prozessbeobachtungsmissionen teil. Wiederholt kam es zu Festnahmen von und Strafverfahren gegen türkische Anwältinnen und Anwälte, ein prominentes Beispiel ist der Fall der kurdisch-türkischen Menschenrechtsanwältin Ebru Timtik, die 2020 im Hungerstreik verstarb. Im selben Jahr war die Unabhängigkeit der Anwaltschaft durch ein Gesetz zur Neuordnung des Kammerwesens gefährdet, die großen und mächtigen Kammern sollten zerschlagen werden. Derzeit sollen in 77 von 81 türkischen Provinzen Anwältinnen und Anwälte verhaftet oder verurteilt worden sein. Im ganzen Land laufen Verfahren gegen sie, teils in ihrer Funktion als Kammervertreter oder als Mitglieder von Anwaltsorganisationen wie der Progressive Lawyers Association (ÇHD) und der Vereinigung der Anwälte für Freiheit (ÖHD). 553 Anwältinnen und Anwälte wurden zu insgesamt 3.380 Jahren im Gefängnis verurteilt; mehr als 1.700 werden strafrechtlich verfolgt und mehr als 700 befinden sich in Untersuchungshaft. VERFAHREN GEGEN DEN GESAMTEN ISTANBULER KAMMERVORSTAND Die Istanbuler Rechtsanwaltskammer ist mit ihren über 65.000 Mitgliedern wohl eine der größten Anwaltskammern der Welt. Vorgeworfen werden ihrem Vorstand samt seinem Präsidenten, dem ehemaligen Abgeordneten Prof. İbrahim Kaboğlu, „terroristische Propaganda“ und „öffentliche Verbreitung irreführender Informationen“. Die Kammer hatte im Dezember 2024 zu einer unparteiischen und wirksamen Untersuchung der Umstände im Zusammenhang mit dem Tod von zwei kurdischen Journalisten durch türkische Drohnen in Syrien aufgerufen, sowie zur Freilassung von Anwältinnen und Anwälten, die wegen der Teilnahme an einer Demonstration gegen diese Vorfälle inhaftiert worden waren. Dem Strafverfahren ging ein separates, auf den gleichen Tatsachen beruhendes Zivilverfahren voraus, das zur Amtsenthebung des gesamten Vorstands am 21.3.2025 führte. Dagegen ist BeruFoto: Astrid Gamisch Die internationale Prozessbeobachtungs-Gruppe vor dem Istanbuler Justizpalast * Die Autorin war ebenfalls für die BRAK als Prozessbeobachterin in Istanbul vor Ort.
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